Geschwister-Zoff Müssen Eltern jedes ihrer Kinder gleich behandeln?
Geschwister vergleichen sich ständig. Warum es gerade deshalb wichtig ist, dass für sie verschiedene Regeln gelten – die Eltern aber auch bei jedem Kind neu überdenken dürfen.
Geschwister vergleichen sich ständig. Warum es gerade deshalb wichtig ist, dass für sie verschiedene Regeln gelten – die Eltern aber auch bei jedem Kind neu überdenken dürfen.
Die Älteste ist sauer. Ihr zwei Jahre jüngerer Bruder bekommt jetzt auch Taschengeld – und zwar „viel früher, als ich das bekommen habe“. Zum Glück ist ihr nicht aufgefallen, dass der Bruder auch viel früher sein erstes Eis hatte, abends eigentlich immer so lange aufbleibt wie sie und schon jetzt allein zum Fußballtraining radelt, während sie lange zum Sport begleitet wurde. Sonst wären die „Wie-unfair!“-Rufe noch lauter. Aber ist es wirklich ungerecht, wenn für verschiedene Kinder unterschiedliche Regeln gelten? Und müssen Eltern akribisch darüber Buch führen, was sie welchem Kind in welchem Alter erlauben?
Ingeborg Widmann, Psychologin beim Jugendamt Stuttgart, hat tatsächlich immer mal wieder Eltern in den Beratungen, die genau das machen, um möglichst alle Kinder gleich zu behandeln. Alltagstauglich und sinnvoll findet sie das nicht. „Familien ändern sich mit jedem Kind, welches dazu kommt. Das bedeutet auch, dass Regeln nicht nur für ein Kind funktionieren müssen, sondern für die Gesamtkonstellation in der Familie“, sagt Ingeborg Widmann. So haben Eltern mit mehreren Kindern beispielsweise einfach weniger Zeit für jedes einzelne – weshalb jüngere Kinder beispielsweise früher selbstständig Wege zurücklegen.
„Hinzu kommt, dass Eltern mit den Jahren auch gelassener werden, weil sie Erfahrungswerte sammeln“, sagt Dorothea Jung, Leiterin der Onlineberatung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung (bke) in Fürth. Auch das führt dazu, dass jüngere Geschwister Dinge häufig früher dürfen als die Älteren. Und dann ist da noch die Tatsache, dass Geschwister sich stark untereinander vergleichen. „Bekommt einer ein Eis oder Taschengeld, wollen das die anderen natürlich auch“, sagt Dorothea Jung. Jüngere Geschwisterkinder kommen dadurch viel früher überhaupt auf die Idee, auch Süßes essen zu wollen oder eigenes Geld brauchen zu können.
„Gerade die ältesten Kinder denken oft bis ins Erwachsenenalter hinein, dass die Eltern bei ihnen mit vielen Regeln am strengsten waren“, sagt Ingeborg Widmann. Sie findet es wichtig, die Kinder ernst zu nehmen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, ihre Sichtweise anzuhören und ihnen zu erklären, warum jüngeren Geschwistern manche Dinge früher erlaubt werden.
„Vielleicht wird das Kind das nicht gleich einsehen. Als Eltern darf man aber immer darauf hoffen, dass Kinder diese Einsicht für elterliche Entscheidungen im Rückblick als Erwachsene haben“, sagt Egbert Witte, Erziehungswissenschaftler an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.
Grundsätzlich gelingt es Eltern nur, mehreren Kindern gerecht zu werden, wenn sie zwischen ihnen differenzieren – auch durch unterschiedliche Regeln. „Alle gleich behandeln zu wollen, führt am Ende zu Ungerechtigkeiten, weil nicht alle gleich sind“, sagt Ingeborg Widmann.
Naheliegend ist eine Differenzierung nach Alter, wie es etwa viele Familien bei der Einführung von Taschengeld oder beim ersten Handy machen. „Dazu kommt aber, dass Geschwister oft sehr unterschiedliche Fähigkeiten und Charaktere haben und die Entwicklung verschiedener Kompetenzen auch nicht bei allen in jedem Alter gleich ausgeprägt ist“, sagt Dorothea Jung.
Kann ein Kind beispielsweise schon früher gut mit Geld rechnen, bietet es sich auch eher an, ihm früher Taschengeld zu geben. Mit welchem Alter man ein Kind allein zu Hause lässt, hängt auch damit zusammen, wie wohl es sich dabei fühlt. „Und nur weil ein Kind zum Start der fünften Klasse ein Handy bekommen hat, bedeutet das noch lange nicht, dass ein anderes Kind zu diesem Zeitpunkt auch die notwendigen Kompetenzen dafür hat“, sagt Ingeborg Widmann.
Erklären Eltern Kindern, dass sie Regeln nicht willkürlich festlegen, auch wenn es dem nachwuchs so vorkommt,sondern dabei die Fähigkeiten und die Entwicklung der Kinder im Blick haben, ist das für alle Geschwisterkinder eher nachvollziehbar. In diesem Zusammenhang hält des Dorothea Jung auch wichtig, den Kindern zu erklären, dass mehr Rechte und Freiheiten auch einhergehen mit mehr Verantwortung und Pflichten.
Dorothea Jung macht dazu ein Beispiel: Eltern entscheiden sich dafür, dass ein Kind Taschengeld bekommt, weil es nun die Kompetenz hat, mit Geld zu rechnen. Diese Kompetenz bringt dann auch die Möglichkeit mit sich, für die Familie mal beim Bäcker morgens Frühstück zu kaufen. Wobei Jung betont, dass das Taschengeld an sich grundsätzlich nicht an diese Bedingung geknüpft sein sollte.
Und dann gibt es Dinge, bei denen eine Differenzierung zwischen Geschwistern durchaus sinnvoll wäre – beispielsweise bei den Bettgehzeiten oder bei der Frage, welche Filme man gemeinsam schaut – die im Familienalltag aber gar nicht so leicht zu realisieren sind. „Da muss man dann einfach versuchen, gute Kompromisse zu finden“, sagt Ingeborg Widmann.
So könnten Geschwister beispielsweise zur gleichen Zeit ins Bett gehen, die älteren dürften aber noch länger etwas lesen oder ein Hörspiel hören. „Schaut man gemeinsam einen Film, sollte man sich am jüngsten Kind orientieren, damit man dieses nicht überfordert“, sagt Dorothea Jung. Mit einem älteren Kind könnte man dafür bewusst mal allein einen Filmeabend machen oder ins Kino gehen.
Das alles sind aber nur Beispiele, was genau in einer Familie funktioniert, muss jeder für sich selbst herausfinden. „Es gibt in Erziehungsfragen nie so eine Art Rezeptwissen, dafür handeln alle beteiligten Akteure zu eigenwillig und bisweilen eigensinnig und nicht so berechenbar wie die Zutaten einer Backmischung“, sagt Egbert Witte.
Und selbst wenn sich Eltern viele Gedanken darüber machen, wie sie mehrere Kinder möglichst gerecht und differenziert behandeln, wird es unter Geschwistern immer Streit um das Gerechtigkeitsthema geben – allein schon, weil Kinder genau wissen, dass sie mit „Unfair-Rufen“ Aufmerksamkeit bekommen und eine Reaktion bei den Eltern auslösen.
„Dazu kommt, dass Kinder vor allem solche Situationen wahrnehmen, in denen sie sich benachteiligt fühlen, und nicht solche, in denen sie selbst vielleicht gerade bevorzugt werden“, sagt Ingeborg Widmann.