Weisheit der Massen? Für David Weinberger von der Harvard-Universität kommt es auf das Durcheinander der Meinungen an. Bei einem Vortrag in Stuttgart beschreibt er die Vorzüge unstrukturierter Datensammlungen.
Stuttgart - Als der damalige US-Präsident Abraham Lincoln vor knapp 150 Jahren in Gettysburg einen Soldatenfriedhof einweihte, forderte er mit Blick auf den Bürgerkrieg, „dass die Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk, nicht von der Erde verschwinden möge“. Auf diese in den USA bekannte Formulierung „of the people, by the people, for the people“ stützte sich David Weinberger am Donnerstagabend in der Stadtbibliothek Stuttgart, als er auf den Punkt brachte, was das Internet seiner Ansicht nach ist: Es sei ein Netzwerk „of us and by us“, von uns und durch uns entstanden. Den dritten Satzteil Lincolns, das „for the people“, ließ er weg. Das hat etwas mit Martin Heidegger zu tun – doch dazu später mehr.
Weinberger hat eine kurvenreiche Biografie vorzuweisen. In den 70er Jahren hat er über Heideggers Technikphilosophie promoviert, anschließend aber Gags für Woody-Allen-Comics produziert. Er hat IT-Firmen in Sachen Marketing beraten und forscht seit einigen Jahren an der Harvard-Universität über das Internet. Auf seiner Website gibt er noch einige weitere Empfehlungen, wie man ihn als Redner ankündigen könne: etwa als bekannter Blogger der ersten Stunde und als Autor des Buchs „Too big to know“, das auf Deutsch im Huber Verlag erschienen ist.
Er verbringt einige Tage in Stuttgart, um einen Kompaktkurs für Studenten der Universität Stuttgart zu leiten. Das Internationale Zentrum für Kultur- und Technikforschung und die Alcatel-Lucent-Stiftung haben ihn eingeladen. Er soll erklären, wie das Internet die Gesellschaft verändert. In seiner Antwort umschifft er praktisch alle Fragen, die einer besorgten Öffentlichkeit unter den Nägeln brennen, und zeichnet ein idealistisches Bild der neuen Zeit. Seiner Ansicht nach deckt das Internet bloß gesellschaftliche Phänomene auf, die es längst gibt. Es sei zwar beunruhigend, aber nichts, was der Gesellschaft übergestülpt würde. Das gilt zumindest, wenn man voraussetzt, dass alle im Internet aktiv sind. Über Menschen, die nicht mitmachen, redet Weinberger nicht.
Früher passte alles auf eine Karteikarte
Eine Reihe von Vergleichen soll seine Sicht der Dinge verdeutlichen. Wie war es beispielsweise im Jahr 1919, als die „New York Times“ meldete (hier ein Faksimile des Artikels als PDF), dass die Relativitätstheorie Albert Einsteins spektakulär bestätigt worden sei? Astronomen hatten bei einer Sonnenfinsternis im Mai beobachtet, dass das Schwerefeld der Sonne das Licht der Sterne ablenkt. Die Zeitung berichtete darüber erst im November, doch Weinberger kommt es nicht auf den Zeitverzug an. „Wenn ein Leser nun eine Frage hatte, blieb er damit allein“, klagt er. Die Möglichkeit, einen Brief zu schreiben, erwähnt er nicht. Briefe gehören für ihn zu einem Zeitalter, in dem man noch gezwungen war, sich kurz zu fassen und auf allerlei Informationen zu verzichten. Damals seien Mitarbeiter in Unternehmen auf wenige Personaldaten reduziert worden, die auf ein Karteikärtchen passen. Weinberger zeigt ein fiktives Beispiel, in dem auch die Kategorie „Störenfried (Ja/Nein)“ nicht fehlt.
Heute hinterlässt man beim Surfen im Netz eine gigantische Datenspur. Weinberger redet aber nicht von Persönlichkeitsrechten und Datenschutz, sondern von der Möglichkeit, alles einmal Gespeicherte wiederzufinden. Er geht so weit zu behaupten, dass sich erst in diesem großen Durcheinander wahres Wissen etabliere. Zum Vergleich beschreibt er die Situation der Physiker im Jahr 2011. Damals präsentierte eine Forschergruppe Messergebnisse, die der Relativitätstheorie widersprechen.
Eine exotische Form der Materie, die Neutrinos, sollen im Experiment schneller geflogen sein als das Licht. Es waren nur 0,0025 Prozent mehr, doch die Relativitätstheorie sieht keine noch so kleine Toleranz vor. Die Physiker stellten, wie es in ihrem Fach üblich ist, einen Vorbericht ins Netz und baten ihre Kollegen um Kommentare. Ein halbes Jahr später kam heraus, dass ein Glasfaserkabel nicht richtig eingesteckt war und dies die Messung verfälscht hatte. Weinberger ist begeistert: Viele Physiker hatten Stellungnahmen ins Netz gestellt, und das physikalische Wissen existiere nun in Form eines Netzwerks von Online-Texten, die aufeinander verweisen. Gerade die Vielfalt mache das Wissen aus – und nicht der Fachartikel, der mehrere Monate später in redigierter und geprüfter Fassung in einem Fachjournal erschien.
Niemand wird durch süße Kätzchen überfordert
Früher sei als Wissen bezeichnet worden, was über jeden vernünftigen Zweifel erhaben ist, sagt Weinberger. Viele hätten gehofft, dass man sich bei aller Meinungsverschiedenheit zumindest auf die Fakten einigen könne. Enzyklopädien wie der „Brockhaus“, dessen Ende diese Woche angekündigt worden ist, stehen für diese Art des Wissens. Sie sei auch mit der Angst vor Informationsüberflutung verbunden, sagt Weinberger. Doch die Angst gehe auf das Ideal zurück, das Wissen zu beherrschen. Heute muss man das gelassener sehen. Wer bei Google „süße Kätzchen“ eingibt, erhält zwar fast fünf Millionen Treffer. Doch niemand warne vor einer Überforderung, sagt Weinberger, denn niemand komme auf die Idee, sich alle fünf Millionen Bilder anzuschauen.
Wikipedia ist kein herkömmliches Lexikon. Dort gibt es nicht nur Platz für abseitige Stichworte, sondern auch für Debatten. Nicht selten streiten sich die Autoren der Beiträge. Dass fast alle Nutzer darauf verzichten, sich durch die Entstehungsgeschichte eines Artikels zu klicken, spielt für Weinberger keine Rolle. Er sieht spannenden Dissens sogar zwischen den Beiträgen. Der deutsche Artikel zur Geschichte der Luftfahrt erwähne zum Beispiel Pioniere wie Otto Lilienthal, die in der französischen und englischen Version übergangen werden. Das macht für ihn einen Grundzug der Gesellschaft deutlich: „Wir sind uns nicht einig.“ Die Debatte darüber, die sich nicht zuletzt in Links zu Kritikern und Unterstützern äußert, stellt für ihn das moderne Wissen dar. Es wird nicht vorgegeben, sondern entsteht mit der Zeit.
Als sich Martin Heidegger mit den technischen Errungenschaften des frühen 20. Jahrhunderts befasst habe, war das noch anders. Heidegger sah beispielsweise in einem Staudamm ein Objekt, das zeige, wie sehr die Menschen die Umwelt als Ressource betrachten. Und er sah es als ein Objekt, das „für uns gebaut wurde“, wie es Weinberger ausdrückt. Das Internet zeige hingegen, dass die Welt unkontrollierbar sei. Außerdem sei es nicht für die Menschen gemacht, sondern werde von ihnen gestaltet. Auch wenn mancher frustriert ist über den Müll im Netz – Weinberger zufolge ist das ein Blick in die Seele der Gesellschaft: „Das Internet spiegelt wider, wofür wir uns wirklich interessieren.“