Die Zukunft dieses Kontinents hängt heute mehr denn je vom Engagement der Bürger ab. Vielen wird erst jetzt klar: Demokratie ist kein Geschenk, das man ins Grundgesetz einträgt. Sie ist eine Aufgabe.

Stuttgart - Während ich an meinem Schreibtisch sitze und diesen Essay schreibe, versammeln sich Tausende in diesem Land an zentralen Plätzen in ihren Städten und setzen damit ein Zeichen für Europa. Bei Twitter finden sich unter dem Hashtag #PulseofEurope Bilder aus Berlin, Hamburg, Frankfurt und anderen Städten. Das Wetter spielt zwar nicht mit, aber dafür immer mehr Menschen, auch in Stuttgart.

 

Erst vor zwei Wochen saß ich im Foyer des Stuttgarter Staatstheaters mit dem Journalisten und Moderator Jörg Armbruster und dem Autor Andre Wilkens, einem der Mitinitiatoren des Diskussionsformats „Die offene Gesellschaft“. Das Foyer war voll neugieriger Gäste und im Grunde bestritt das Publikum diesen Gesprächsabend. Das Format „Die offene Gesellschaft“ bringt Menschen zusammen und gibt auch jenen Bürgern eine Öffentlichkeit, die sonst nicht auf Podien, in Parteien oder anderen Foren aktiv sind. Es ging auch an diesem Abend um Europa. Viele kamen zu Wort, und natürlich gab es mehr Perspektiven als Gäste. Bei der Veranstaltungsreihe kommt es nicht selten vor, dass jemand, noch während er redet, seine Meinung ändert. Meinungen sind nichts Starres, Festes, nichts, dessen wir uns stets sicher sein könnten oder müssten. Meinungen wandeln sich mit neuen Fakten. Werte hingegen sind eine Basis, die nicht von einer einzelnen Nachricht zerstört werden kann.

Bedürfnis nach Zuversicht

Am Ende des Abends im Theaterfoyer beeindruckte mich am stärksten das Bedürfnis der Menschen nach Zuversicht. Viele Zeitgenossen sind klug und gebildet, kritisch und diskussionsfreudig, aber wo sind jene, die uns zeigen, was auch gut läuft, worauf wir uns verlassen können? Wofür es sich zu kämpfen lohnt? Als der Opernsänger Ronan Collett im Saal aufstand und erzählte, dass er als Brite erlebt, wie ihm das eigene Land fremd wird, war es im Saal mucksmäuschenstill. Er ist inzwischen Ire, hat den Pass gewechselt, um auch in Zukunft Europäer bleiben zu können. „Man weiß nicht, was man hat, bis man es verliert“, ist einer der schlichten, einprägsamen Sätze, die er den Zuschauern mitgibt.

Als das anfing mit Pegida, den verbalen Grenzüberschreitungen mancher Politiker, waren sich da viele des Status Quos zu sicher? Dachten viele: Das sind Minderheiten, die sich Gehör verschaffen, aber Deutschland ist eine stabile Demokratie? Mit einem Mal scheint manchem klar zu werden: Demokratien sind nicht stabil, Demokratien werden im täglichen Ringen stabilisiert oder destabilisiert. Was Trump und seine Gegner derzeit in den USA vorführen, ist ein Beispiel dieses Ringens. Demokratie ist kein Geschenk, das man ins Grundgesetz einträgt, sondern eine Aufgabe.

Natürlich zeichnen zahlreiche Medien derzeit die Katastrophen vor: Le Pen könnte gewinnen und mit ihr Frankreich aus der EU austreten. Das Schmerzhafte: Diese Wege sollen mit den Mitteln der Demokratie begangen werden, so wie der Brexit oder die Wahl Trumps zum Präsidenten. Ronan Collett sagte im Foyer des Theaters einen einfachen Satz, den sich alle, die von einem gemeinsamen Europa überzeugt sind, in den nächsten Monaten an den Küchenschrank hängen sollten: „Man darf seine Gegner nicht unterschätzen.“ Die Brexit-Gegner wurden unterschätzt. Trump wurde unterschätzt. Der Wille dieser Politiker, sich jedem Einzelnen zuzuwenden, wurde unterschätzt. Die zersetzenden Kräfte sind stark. Sie interessieren sich nicht für ihre eigenen Widersprüche („Zerstören wir Europa mit einer europäischen desintegrativen Bewegung!“ oder: „Kämpfen wir mit unseren Milliardären in der Tasche im Kabinett gegen das Establishment!“). Wer jetzt Zuversicht fordert, der muss etwas dafür tun, der muss hinaus in die Welt und sich der Umgebung stellen, mit den Menschen reden. Mit möglichst vielen.

Wohlstand – aber nicht für alle

Ich hätte nicht gedacht, dass ich in Deutschland je erleben werde, dass Journalisten mit Lügenpresse-Rufen weggebrüllt werden, wie es dem Blogger Sascha Lobo neulich in Berlin passiert ist. Ein deutscher Journalist, Deniz Yücel, sitzt in der Türkei im Gefängnis. Wir brauchen Zuversicht, aber Zuversicht braucht auch das Handeln der Mehrheit. Doch manche wollen erst einmal Antworten auf die Frage: Wer ist dieses Europa? Und weshalb fühlen sie sich selbst so abgehängt und werden nicht Teil dieser Idee, die Frieden und Wohlstand gebracht hat? Es wird nicht weiterhelfen, die Privilegien der Bewegungsfreiheit zu preisen, wenn viele sich die Freiheit, zu reisen, erst gar nicht leisten können. Man muss auch jene sehen, denen dieses Europa keinen Wohlstand gebracht hat, wenn man für Europa wirbt.

Kurz bevor ich in Stuttgart war, stand ich an der Bushaltestelle einer attraktiven deutschen Großstadt, die stolze Mietpreise von ihren Bewohnern abverlangt. Zwei ältere Frauen unterhielten sich über ihre berufstätigen Töchter. „Also meine kommt mit 1047 Euro netto raus am Ende.“ Die andere fragt nach, als hätte sie sich verhört. „Ja, das ist dann so mit den Abgaben“, sagt die erste: „1047.“ Tausend Euro für einen Vollzeitjob. Als sie bemerken, dass ich ihnen unfreiwillig, aber doch neugierig zuhöre, sehen sie sich an, als müssten sie sich dafür schämen, was diese junge Frau verdient. An der nächsten Station nehme ich ein Taxi, bin viel zu spät dran. Der Fahrer ist ultraentspannt. Er ist so entspannt, dass er mich damit stresst. Nur wenig später bin ich in ein Gespräch mit ihm verwickelt, vergesse den Zeitdruck und höre mir an, wie er zu dieser Ruhe gefunden hat. Er hat lange Zeit für einen der weltberühmten Riesenkonzerne in einer süddeutschen Großstadt gearbeitet. Eines nachts, bei der Arbeit, passierte die Katastrophe: mehrfacher Herzinfarkt. Er hat überlebt. Kurz darauf dann der Umzug in den Norden, weil er dort nicht sein ganzes Gehalt für die Miete ausgeben muss. „In Deutschland gilt nur das Liefern“, sagt er, und liefert mich an meiner Wunschadresse ab. Ich weiß nicht, ob seine Geschichte wirklich wahr ist, ich weiß nur, da saß einer, der sich aufgebraucht fühlte von seinem Arbeitsleben. „In meinem Lohnsektor geht man drauf, das ist der eigentliche Preis“, um es mit seinen Worten zu sagen.

Zu viel scheint zu schnell unmöglich

Es gibt einen Wohlstand, zu dem immer mehr Menschen keinen Zugang haben. Es gibt diese Angst, außen vor zu bleiben, nicht Teil dieses Lebensstandards zu sein. Diese Angst befällt immer mehr, selbst junge und hoch gebildete Menschen. Es müsste in den nächsten Monaten des Wahlkampfs, in dem es neben Deutschland auch um Europa geht, einiges darüber gesagt werden, was mit diesem Land und Kontinent passiert ist. Wie altern wir? Warum sind Jüngere heute in einer Leistungsspirale, die bei vielen noch vor dem ersten Job zum Burnout führt? Warum ist in anderen Ländern Europas jeder zweite junge Mensch arbeitslos? Angela Merkel wird für ihre humane Flüchtlingspolitik hart angegriffen. Und was ist mit ihrer inhumanen Wirtschaftspolitik?

Ich werde keine Armutsstatistiken herunterbeten, aber wer erinnert sich denn noch an die Zeiten, in denen man drei Jahre lang Arbeitslosengeld beziehen konnte? Das klingt heute wie eine Utopie aus der Liga des bedingungslosen Grundeinkommens. Das ist inzwischen mit zahlreichen Themen passiert. Viel zu viel scheint viel zu schnell unmöglich. Das Risiko der Berufsunfähigkeit tragen seit 2001 die Arbeitnehmer. Dann noch mindestens riestern, da man sonst ja in der Rente nicht gut dasteht, als Frau gleich dreimal nicht. Und das – für manche – mit 1047 Euro im Monat.

Am einfachsten lassen sich die unsolidarischen Züge dieser Gesellschaft am Umgang mit dem Alter zeigen. Schweizer und Österreichern sind oft fassungslos darüber, wie Deutschland seine Bürger altern lässt. Das Leben würdevoll zu Ende leben zu können, ist eine große Kunst und ein Bedürfnis aller. Erst kürzlich las ich die Anzeige eines Pflegedienstes mit slawischen Altenpflegerinnen. Die Frauen vom Balkan ziehen bei den Menschen zuhause ein, wenn nötig. Unter einem Spiegelstrich stand „liebevolle Pflege“, als könne man sich von Einwanderinnen bei der Pflegeleistung die Liebe gleich mitkaufen. Manche geben tatsächlich eine Art Liebe, weil sie erzogen wurden, auf diese Weise mit alten Menschen umzugehen. Oder weil sie selbst einsam sind ohne ihre Familien. Ganze Dörfer im ehemaligen Ostblock leben inzwischen ohne einen Großteil der Mütter, weil diese Frauen die Alten in Deutschland pflegen. Die deutsche Öffentlichkeit schiebt Panik wegen der Migrationskrise, findet aber kaum Zeit, sich zu fragen, wer sich um ihre Kranken kümmert – und wie viel Geld für jene da ist, die das übernehmen. In der Not haben selbst Rassisten dann keine Hemmungen mehr, die „Migrationskrise“ wieder in den „Fachkräftemangel“ zu verwandeln. Ich habe inzwischen von der dritten spanischen Krankenschwester gehört, sie könne mit den zeitlichen Vorgaben hierzulande nicht arbeiten. Das sei Abfertigung, das Menschliche käme zu kurz. Die Empörung über die Ökonomisierung von Gesundheit, Bildung und Kultur steht auf keiner Talkshow-Agenda mehr. Doch das sind die Adern Europas, hier wird das Blut zum Herzen gepumpt.

Klarer Blick in die Zukunft

Wer den Puls Europas fühlen möchte, sollte so viele unterschiedliche Menschen wie nur möglich in die Debatten mit einbeziehen. Er muss Europas Herzschlag kennenlernen. Er muss sein Ohr an die Brust legen und hören, wo Europa nervös ist, wo dieses Europa rast und wo es beinahe zum Stillstand kommt. Die Menschen brauchen Zuversicht, aber die Wunden dieses Kontinents dürfen nicht den rechten Kräften überlassen werden. Es geht nicht ums Schönreden – und es geht nicht ums Schlechtreden. Es geht um einen klaren, angstfreien Blick auf das, was vor uns liegt.

Sicher ist: hinter uns liegt der Versuch, die Länder Europas alle näher zusammenzubringen. Europa wird jedoch weder in Brüssel noch auf den zentralen Plätzen der großen Städte allein gemacht. Europa entsteht auch an den Grenzen, wo die Menschen plötzlich Zäune und Gewalt sehen. Europa wird auch in den vielen Krankenhäusern gemacht, die größtenteils nicht ausreichend versorgt sind, oder in Griechenland, wo Europa seine alten Bürger vor geschlossenen Banken hat stehen lassen. Bilder wie diese haben sich fest eingebrannt, sind Sinnbilder eines Kontinents, der die Solidarität infrage gestellt hat.

Es geht jetzt darum, einander die Hände zu reichen. Angefangen bei jenen, die sich verstehen und in einer Stadt leben. Die ihre Unterstützung für dieses Europa in die Öffentlichkeit tragen. Die nächste Herausforderung wird sein, auch jenen, die man auf den ersten Blick nicht versteht, die Hand zu reichen. Damit es nicht andere tun, die sie dann vollkommen aus dem Gemeinsamen reißen. Es geht darum, über die eigenen Landesgrenzen hinaus zu gehen, damit Deutschland kein Land in Europa ist, sondern ein europäisches Land.

Die Autorin Jagoda Marinic

Jagoda Marinic ist Schriftstellerin und Journalistin und leitet seit 2012 das Interkulturelle Zentrum in Heidelberg. Sie wurde 1977 als Tochter kroatischer Einwanderer in Waiblingen geboren und gilt als gewichtige Stimme in der Einwanderungsdebatte. Ihre literarische Arbeit wurde vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien von ihr: „Made in Germany – Was ist deutsch in Deutschland?“

Am kommenden Dienstag, 14. März, spricht Jagoda Marinic im Literaturhaus Stuttgart über ihr aktuelles Buch. Beginn ist um 20 Uhr.