Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Tarifeinheit im Betrieb ist wie das Gesetz selbst sehr umstritten. Vor allem die Arbeitsgerichte fürchten eine höhere Belastung. Der Vizepräsident des Gerichts, Ferdinand Kirchhof, steht in Tübingen Rede und Antwort.

Tübingen - Der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhof, hat das vor zwei Wochen ergangene Urteil zum umstrittenen Tarifeinheitsgesetz gegen Kritik öffentlich verteidigt. Er sei sich dessen bewusst, dass Karlsruhe den Fachgerichten „viel zugemutet“ habe, sagte er in der Universität Tübingen zu dem Vorwurf, dass der Erste Senat an vielen Stellen unklar geblieben sei. „Aber die Arbeitsgerichtsbarkeit kann das.“ Sein Vertrauen in diese bei der Umsetzung des Gesetzes sei „sehr groß“. Dort seien „die Profis“.

 

Es gebe viele Detailprobleme, die nicht von Richtern in roter Robe am grünen Tisch entschieden werden könnten. „Die Rückgabe des Gesetzes an die Arbeitsgerichtsbarkeit mit einer Segelanleitung, wo es hingehen soll, ist die einzige Lösung“, glaubt der Verfassungsrichter. Zudem gebe es eine klare Arbeitsteilung: „Wir sind nicht die Oberlehrer der Fachgerichtsbarkeit.“

Gesetz ist noch nie angewendet worden

Eine Hürde wird zum Beispiel sein, im Fall einer „Kollision“ von zwei überschneidenden Tarifverträgen in einem Betrieb gerichtlich festzustellen, welche Gewerkschaft die Mehrheit der Mitglieder dort hat. Selbst Kirchhof zeigt sich „gespannt“ auf die noch zu entwickelnden Verfahren.

Der Politik hatte Karlsruhe aufgegeben, bis Ende 2018 eine Lücke im Gesetz zu füllen und beim Schutz der Minderheitenrechte nachzubessern. Bisher fehlt es an Vorkehrungen, die Interessen der Beschäftigten, deren Tarifvertrag verdrängt wird, hinreichend zu berücksichtigen. Trotz der nahen Bundestagswahlen gab sich Kirchhof zuversichtlich, dass der neuen Regierung dies rechtzeitig gelinge. Der Gesetzgeber sei „manchmal zögerlich“, komme der Aufforderung aber meist nach. Wenn er die Frist verstreichen lasse, verliere das Gesetz nicht seine Rechtskraft. Ohnehin herrsche seit dessen Inkrafttreten vor zwei Jahren eine „spannungsreiche Zwischenlage“. Die Tarifparteien hätten es bisher nicht zu einer Kollision von Tarifverträgen kommen lassen. Es habe ihn erstaunt, dass das Gesetz noch nie angewendet worden sei – es gebe keinerlei Rechtsprechung dazu.

Bis 2001 Prorektor der Uni Tübingen

Zu Beginn hatte der Tübinger Rechtsprofessor Hermann Reichold den Gast vor den etwa 70 Zuhörern gelobt: Es sei „alles andere als selbstverständlich“, dass Kirchhof in der Hochschulöffentlichkeit Rede und Antwort stehe, denn Verfassungsrichter liebten eher den Austausch im kleinen Kreis. Ein Grund ist wohl alte Verbundenheit: der Vorsitzende des Ersten Senats war bis 2001 Prorektor der Karls-Universität. Im Mai 2015 hatte GDL-Chef Claus Weselsky im Nachbargebäude vor 500 Zuhörern die Streiks der Lokführer und seinen Widerstand gegen das Tarifeinheitsgesetz mit Verve vertreten.