Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hofft, dass die EU Geld für ein Pilotprojekt gibt, das Städten eine eigene Flüchtlingspolitik ermöglicht.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Manche Städte wollen mehr Flüchtlinge aufnehmen. Dabei stoßen sie oft auf Schwierigkeiten. Ein Pilotprojekt will jetzt die Zusammenarbeit europäischer Städte miteinander ermöglichen. Die Politikwissenschaftlerin Gesine Schwan hofft, dass die EU das Projekt finanziert.

 
Frau Schwan, haben Sie Verständnis, wenn Kommunen über einen Aufnahmestopp für Flüchtlinge nachdenken?
Wenn es in einer einzelnen Gemeinde nicht mehr läuft, habe ich natürlich Verständnis. Ich würde mir dann nur mehr Initiative wünschen, um Integration auch verfahrensmäßig weiter voranzubringen. Das ist mehr als Sprachkurse und Wohnungen anzubieten. Da geht es um das Leben miteinander, damit sich die Menschen zu Hause fühlen. Die Kommunen sind die Orte, an denen es praktisch vorangeht. Aber gute Gedanken brauchen immer eine gewisse Zeit, bis alle sagen: Das ist doch klar, so kann es gehen.
Wie weit ist Ihre Idee, mithilfe europäischer Städte eine andere Flüchtlingspolitik zu installieren?
Die Initiative geht gut voran. Am 13. März hat das Europäische Parlament mit großer Mehrheit die Kommission gebeten zu prüfen, ob es nicht sinnvoll sei, den Kommunen in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik mehr Möglichkeiten zu geben. Das bedeutet auch, Geld für Integrationsmaßnahmen und für die eigene Entwicklung in die nächste Finanzplanung für die Zeit ab 2021 aufzunehmen. Mitte Mai wird es dazu auch in Brüssel eine Konferenz geben, zu der der Haushaltskommissar Günther Oettinger eingeladen ist.
Wie sollen die Ideen dann umgesetzt werden?
Ich strebe ein Pilot- oder Demonstrationsprojekt an, in dem sich einige Kommunen und Länder bereit erklären, das auszuprobieren.
Wie viel Geld steht Ihnen zur Verfügung?
Das wissen wir erst am 15. Mai. Ein Demonstrationsprojekt würde jetzt aus Restmitteln realisiert werden. Nach meinen Vorstellungen sollten wir nämlich schon 2019 beginnen, um Erfahrungen für den nächsten Finanzrahmen zu sammeln, der von 2021 bis 2028 geht. Die Idee ist, dass der Europäische Rat auf Basis der jetzigen Erfahrungen die nationalen Regierungen von der Aufnahme bestimmter Flüchtlingskontingente befreit und dafür in einen Fonds einzahlt. Bei dem können sich dann Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen wollen, um die Finanzierung der Integration und in gleicher Höhe um die Finanzierung eigener Entwicklungsprojekte bewerben. Victor Orbán argumentiert ja offiziell nicht, dass er keine Fremden will, sondern, dass er sich nichts aufs Auge drücken lassen will. Sprich: die Europäische Kommission über Ungarn befindet. Wenn die Kommunen selbst entscheiden, ist das keine Fremdbestimmung mehr.
Können die Städte denn eine Flüchtlingspolitik an den nationalen Parlamenten vorbei machen?
Nein, das können sie legal nicht. Aber in der jetzigen Situation, wo allen klar ist, dass der Konflikt zwischen Ost und West und zwischen Nord und Süd immer größer wird, wenn die Flüchtlingsfrage nicht geregelt wird, ist das eine Chance. Wenn dann Länder die Initiative ihrer Städte nicht zulassen – wenn etwa Danzig sich bewirbt –, ist das ein innerpolnisches Problem. Dann müssen sich die Städte gegen die Zentralregierung wenden, weil sie ihnen Entwicklungsgelder vorenthält. Dann kann man wirtschaftlich argumentieren.
Sie argumentieren aber auch moralisch mit der ethischen Glaubwürdigkeit der EU und dem Mangel an europäischer Solidarität.
Moralisch sowieso. Aber ich bin überzeugt – aus praktischer Erfahrung und aus demokratietheoretischen Überlegungen –, dass ein politisches System sich nicht halten kann, das dauernd seinen eigenen normativen Grundlagen widerspricht. Und im Moment widersprechen wir unseren normativen Grundlagen. Wir schauen zu, wie die Libyer widerrechtlich Seenotrettungsschiffe torpedieren, und lassen die Italiener alleine.
Welcher Personenkreis soll dann nach Europa kommen dürfen?
Es gibt ein menschengerechtes Asylaufnahmeverfahren in den Niederlanden, das unter Aufsicht des Amsterdamer Bürgermeisters – damals war er niederländischer Justizminister – entwickelt worden ist. Das Verfahren braucht zurzeit nur zehn Tage. Die Weiterentwicklung des Modells für Hotspots in Südeuropa beinhaltet, dass die Menschen dort Asyl beantragen können, ohne in Griechenland bleiben zu müssen.
Braucht der gute Wille der Kommunen immer eine Anschubfinanzierung?
Nein. Barcelona beispielsweise wollte 30 000 Flüchtlinge aufnehmen. Aber die spanische konservative Nationalregierung unter Rajoy will es nicht.
Wie sehr braucht Ihr Plan die Zivilgesellschaft?
Sehr stark. Die Gemeinden können ja nur umsetzen, was Nichtregierungsorganisationen, die organisierte Zivilgesellschaft, Kirchen und Gewerkschaften, Flüchtlingshelfer und Migrantenorganisationen, aber auch der Unternehmenssektor mittragen. Diese Multi-Stakeholder-Partizipation gehört zur Strategie, damit die Entscheidungen von einer breiten Mehrheit getragen werden. So wird die sogenannte Flüchtlingskrise zur Wachstumschance.