Altersmilde? Nein, das ist er nicht! „Altersmilde ist ein blödes Wort“, sagt Ex-Bahn-Chef Heinz Dürr. Auch mit 87 mischt er sich voller Emotionen ein. Unser Kolumnist sprach mit dem Unternehmer über das, was jung hält: über Neugierde!

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Sein Leben hat sich grundlegend verändert, schon vor Corona. Bei der 200-Jahr-Feier der Humboldt-Universität in Berlin ging ihm ein Licht auf. Am Eingang fragte Heinz Dürr, der 1933 in Stuttgart geborene Großaktionär der Dürr AG, die Hostess nach seinem Sitzplatz. „Nur in den beiden ersten Reihen gibt es namentlich gekennzeichnete Plätze“, lautete die Antwort. Da er nicht auf der VIP-Liste stehe, könne er weiter hinten Platz nehmen, wo er wolle. Es war voll. Dürr setzte sich in die letzte Reihe – eine völlig neue Erfahrung für einen, der zeitlebens in vielen Stationen seiner großen Managerkarriere immer in der Pole-Position saß.

 

Jetzt war er also in der letzten Reihe angekommen – dort, wo man oft langweiligen Reden gar nicht bis ins Detail folgen muss. Heinz Dürr, der erst die Firma seines Großvaters, den Anlagenbauer Dürr, an die Weltspitze führte, um danach Spitzenpositionen bei der AEG, Daimler und der Bahn zu übernehmen, nimmt den Platz weit hinten gern an. Die Sicht der Dinge wird eine andere. „Zwischenrufe aus der letzten Reihe“ lautet der Untertitel seines neuen Buchs „Alter Mann, was nun?“ (Langen Müller). Am Telefon erleben wir einen „alten Mann“, der flink im Denken ist, der klarmacht, worauf es ankommt, um seine Lebensfreude zu erhalten, auch wenn man nicht mehr zur Familie VIP und Wichtig gehört. „Die Neugierde zählt“, sagt Dürr. „Gut, körperlich geht’s zurück“, fährt er fort, „aber alt wirst du erst, wenn du nicht mehr neugierig bist.“

„Meine Frau hindert mich daran, alt zu sein“

einer Frau Heide Dürr, die mit ihm eine Kulturstiftung leitet, macht er ein schönes Kompliment, womit wohl bewiesen ist, dass auch Liebe jung hält: „Meine Frau ist mit mir alt geworden und hat mich daran gehindert, alt zu sein.“ Jetzt stehe er vor einer wichtigen Frage: „Was habe ich von der Zeit, die mir bleibt, noch zu erwarten?“ Um diese Frage für sich, aber auch für Jüngere klären zu können, die vom Rat eines Mannes mit viel Erfahrung profitieren wollen, hat der Dürr das Buch geschrieben, das kaum ein Thema unserer Zeit auslässt: Klimawandel, Digitalisierung, Corona. Eine wichtige Botschaft dabei ist: Es lohnt sich, sich in die letzte Reihe zu begeben. Denn aus der Distanz sieht man oft klarer.

„Nach jeder Krise, die ich erlebt habe, ging es aufwärts“, sagt er. Daran glaubt Dürr auch fest in der Pandemie. Mit Blick auf den Wirtschaftsstandort Deutschland stellt er fest: „Google holen wir nicht mehr ein.“ Nun sei es wichtig, die gesamte deutsche Industrie auf die Digitalisierung einzustellen, vor allem auch den Mittelstand. Die Künstliche Intelligenz sei vor 20, 30 Jahren in Deutschland entwickelt worden, aber nun fehle die Umsetzung. Dürr: „Dies liegt vor allem daran, dass wir im Land eine zu große Kluft haben zwischen Politik, Wirtschaft und Wissenschaft.“

Dürrs Gedanken to go

Künftig gibt es Dürrs Gedanken to go. Im Stuttgarter Stadtteil Schönberg will der dortige Bürgerverein eine alte Telefonzelle zum Bücherschrank umfunktionieren, sobald es Corona zulässt. Man bringt Lieblingsbücher, stellt diese rein, damit andere sie mitnehmen und die Lesefreude teilen können. Die Tauschbörse für Lesefans boomt. In Stuttgart gibt es über 30 Bücherschränke. Lesen führt mitten rein ins Leben. Lesen fördert Fantasie und Denken. Im besten Fall vertreibt Lesen die Dummheit.

Die Journalistin Susanne Offenbach hat für Schönberg „Alter Mann, was nun?“ ausgewählt. „Das Buch von Heinz Dürr ist witzig, informativ und ziemlich offen für jemanden, der selbstkritisch auf sein Leben schaut“, sagt sie. In einer Nacht habe sie es bis morgens um halb drei durchgelesen. Das Buch sei eine „aufschlussreiche Lektüre für Leute aus unserer Region, die die meisten der angesprochenen Akteure kennen“. Diese Akteure sind oftmals ebenso in der letzten Reihe angekommen. Keiner steht für immer ganz vorne. Dies sollte man nicht vergessen auf den Höhepunkten der Karriere. Demut hilft, Dinge besser einzuschätzen.

Einer, für den „altersmilde ein blödes Wort“ ist, wird emotional, wenn es um Stuttgart 21 geht. Schließlich hat er daran wesentlich mitgewirkt. „Man redet viel zu wenig über die 150 Hektar, die Stuttgart in der City zum Bebauen gewinnt“, meint er, „es geht nicht allein um den Bahnhof.“ Und gar nicht milde schimpft Dürr: „Da ist einiges von der Stadt vergeigt worden.“