Jolanda hat starke Schmerzen, kann sich aber nicht operieren lassen. Das Los einer Stuttgarter Armutsprostituierten, die nicht krankenversichert ist.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Jolanda sitzt breitbeinig auf einem weißen Ledersofa und wimmert. Die Perücke mit den langen glatten Haaren, die sie sonst für ihre Freier trägt, hat sie achtlos hinter sich geworfen. Über ihr an der Wand hängt ein pastellfarbener Jesus in einem goldenen Plastikrahmen. Der Sohn Gottes schaut geradeaus in den kleinen, schmucklosen Raum, der der Prostituierten als Küche, Wohn- und Esszimmer dient. Roter Stoff ist mit Reißzwecken an der Tapete befestigt, das Fenster ist abgehängt. Jolanda stöhnt.

 

Sie trägt nur eine Fleecejacke, ansonsten ist sie nackt. Ihre Brüste hängen auf ihren dicken Bauch herunter. Sie krümmt sich zusammen, die eine Hand reibt den Bauch, mit der anderen fasst sie sich an die Stirn. Ihre Augen sind feucht, doch es rinnt keine Träne über das breite, schmerzverzerrte Gesicht, das mal hübsch gewesen sein mag. Jolanda ist 46. Sie sieht älter aus.

„Willst sterben hier, oder was?“, fragt Martha und zieht an einer Zigarette. Der Rauch vermischt sich mit dem Geruch kalter Nudelsuppe. Auf einem Campingkocher steht ein Topf, in dem aufgequollene Fertignudeln in braunem Wasser schwimmen. „Bist krank oder bist nicht krank“, fragt die Zimmernachbarin, die wie Jolanda in Wirklichkeit anders heißt. Martha ist eine Institution im Leonhardsviertel. Viele Huren kommen zu ihr, wenn sie Sorgen und Probleme haben. Doch jetzt ist Martha genervt. Seit Tagen geht das so: Jolanda arbeitet nicht. Sie leidet nur.

Jolandas Problem ist so groß wie eine Kastanie: 32,6 mal 26,2 Millimeter misst der Gallenstein in ihrem Bauch. Erst vor fünf Tagen landete sie mit akuten Gallenkoliken in der Notaufnahme einer Stuttgarter Klinik. Mit Schmerztabletten in der Handtasche kehrte sie ins Leonhardsviertel zurück – und mit dem Wissen: die Entfernung des Steins würde mindestens 3000 Euro kosten. Jolanda hat keine 3000 Euro, und sie hat keine Krankenversicherung, die den Betrag für sie übernehmen würde.

Privatversicherung kommt für die Prostituierten nicht infrage

Die Armutsprostituierten aus dem Leonhardsviertel seien alle nicht krankenversichert, sagt die Sozialarbeiterin Sabine Constabel vom Sozialdienst des Gesundheitsamts, die das Prostituiertencafé La Strada im Rotlichtviertel betreut. Sie hätten kein Geld und seien überfordert.

Eigentlich müsste sich Jolanda privat krankenversichern. Wer nie angestellt, sondern nur selbstständig in Deutschland gearbeitet hat, muss von einer gesetzlichen Krankenversicherung nicht aufgenommen werden. Auch sonst wäre ein Einstig in die gesetzliche Versicherung nach Jahren ohne Schutz teuer: Bis Dezember 2007 könnten die Kassen nicht bezahlte Beiträge rückfordern. Sich privat zu versichern komme für die Betroffenen nicht infrage, sagt die Sozialarbeiterin. Wegen der Berufsrisiken sind die Versicherungssätze für Prostituierte hoch, die Leistungen sind für sie meist eingeschränkt.

„Nicht Ambulanz“, haucht Jolanda mit dunkler, kratziger Stimme. „Kein Geld.“ Sie reibt sich wieder über den Bauch. Maria, eine dritte Prostituierte, massiert ihr den Rücken. „Bist krank“, meint Martha forsch und drückt ihre Zigarette in einem Teller aus. Da nickt Jolanda. Endlich. Die Frauen im Raum rufen den Rettungswagen. Sie hoffen, dass es diesmal anders läuft als vor fünf Tagen. Dass Jolanda diesmal operiert wird.

Sprechstunde im La Strada

Es gibt in Stuttgart Anlaufstellen für Nichtkrankenversicherte: neben dem städtischen Gesundheitsamt ist das jeden Mittwoch die Sprechstunde der Malteser-Migrantenmedizin beim Marienhospital. Alle zwei Wochen kommt zudem ein Arzt des Gesundheitsamts abends ins La Strada. Er hat Zeit für höchstens zwölf Frauen. Wer zu spät kommt, muss zwei Wochen warten. Ohnehin sind die Möglichkeiten begrenzt. Bei einer Bronchitis können die Ärzte helfen, jedoch nicht bei einem Beinbruch. „Wir können Diagnosen stellen, aber keine Operationen durchführen“, sagt Regine Martis-Cisic vom Malteser-Hilfsdienst.

Auch das Gesundheitsamt bietet nur ein medizinisches Basisangebot. Der zuständige Sachgebietsleiter Martin Priwitzer hat selbst schon die Sprechstunde im La Strada übernommen. Jedes Mal sei mindestens eine Frau mit akuten Problemen dabei, die eigentlich in einer Klinik behandelt werden müsste, berichtet der Facharzt für öffentliches Gesundheitswesen und Sozialmedizin. Bei seiner letzten Sprechstunde kam zum Beispiel eine Prostituierte, die eine künstliche Hüfte bräuchte. Auch sie ist nicht versichert, auch sie kann sich die Operation nicht leisten. Keine Stuttgarter Klinik schicke jemanden weg, der lebensbedrohlich krank sei, betont der Arzt. Alles andere werde jedoch „sehr restriktiv“ behandelt, ist seine Erfahrung.

Jolanda wuchtet sich hoch, schleppt sich ins Arbeitszimmer nebenan, kehrt Minuten später schwankend in schwarzer Hose, weitem grünen T-Shirt und Badeschlappen zurück. Wirft sich wieder aufs Sofa. Martha guckt sie streng an: „Wenn du bist im Krankenhaus, nicht mit große Mund“, schärft sie ein. Jolanda kann ruppig sein. Das Leben hat sie hart werden lassen. Aber es hat ihr nicht den Stolz genommen.

Aufgewachsen in einem Slum in Santo Domingo

Seit 20 Jahren ist Jolanda Prostituierte im Stuttgarter Leonhardsviertel – „aus Not, nicht aus Spaß“, wie sie sagt. Jolanda ist in einem Slum in Santo Domingo aufgewachsen. Sie kann weder lesen noch schreiben und hängt einem katholischen Voodoo-Glauben an. So lässt sie sich nicht fotografieren aus Angst um ihre Seele. Und an ihre Zimmertür hat sie unter die Postkarte der heiligen Clara ein geweihtes, angebissenes Brötchen geklebt. Es soll bewirken, dass sie immer etwas zu essen hat.

Jeden Euro, den Jolanda entbehren kann, schickt sie an ihre Familie in die Dominikanische Republik. Ihre Mutter, das hat sie einmal einer Helferin des Café La Strada anvertraut, sei die einzige Person, für die sie echte Liebe empfinde. Richtig verliebt war Jolanda noch nie.

Die Stuttgarter Kliniken befinden sich in einer undankbaren Rolle. Sie sollen Kranken helfen, aber auch wirtschaftlich arbeiten. Beim Klinikum Stuttgart wird eine Trennlinie gezogen: Notfälle, bei denen es laut Definition „um Leib und Leben“ geht, werden „selbstverständlich behandelt“, sagt Klinikumssprecherin Ulrike Fischer. Anders ausgedrückt: wer den Tag oder die Nacht nicht überleben würde, wird operiert. Und es gibt die sogenannten elektiven Fälle, die planbar sind, wie ein Hüftgelenk. „Bei elektiven Fällen verlangen wir eine Kostenübernahmegarantie, diese ist auch vom Sozialamt möglich“, so Fischer.

Auch bei Notfällen versuche man, sich die Kosten im Nachhinein von der Agentur für Arbeit oder dem Sozialamt wiederzuholen. „Wir sind da auf eine Mitwirkung der Patienten angewiesen, diese fehlt leider häufig“, sagt der Leiter des stationären Patientenmanagements beim Klinikum, Michael Bremer. Doch ohne Mitwirkung würden die Anträge abgelehnt. 241 Fälle ohne Krankenversicherung habe es allein in den Monaten Juni bis einschließlich September gegeben. Seit Juni wird die Zahl gesondert erfasst, weil die Fälle stark zugenommen haben. 23 habe man nachversichern können, beim Rest befürchtet das Klinikum, auf den Kosten sitzen zu bleiben.

Jolanda in der Notfallpraxis

Als die Tür des Rettungswagens vor dem Eingang des Marienhospitals wieder aufgeht, sind zunächst nur die Rückseiten der roten Badelatschen auf der Liege zu sehen. Jolanda ist wach, aber sie scheint ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. Im Warteraum der Notfallpraxis sitzen ein gelangweilt aussehendes Pärchen und ein junger Mann, der auf sein Smartphone starrt. Für diese Patienten lautet die Frage nicht ob, sondern wann sie behandelt werden.

„Wie, die Frau hat keine Krankenversicherung?“ Die Dame am Empfang verzieht genervt das Gesicht. Aber Jolanda darf zum Arzt, und Maria – auch sie heißt eigentlich anders – soll als Übersetzerin mitkommen. Nach der Untersuchung heißt es, die Patientin müsse dableiben. Eine Schwester beugt sich zu ihr. „Man muss die Ursachen für die Schmerzen bekämpfen“, sagt sie mit warmer Stimme. Jolanda schaut sie aus Schlitzen an. „Kein Geld“, haucht sie. Das kriege man hin, sagt die Schwester. Sie habe gehört, es gebe da „irgendeinen Topf“.

Es gibt keinen speziellen Topf für Fälle wie Jolanda. „Es stimmt aber nicht, dass die Krankenhäuser alles ablehnen“, versichert die Geschäftsführerin des Marienhospitals, Monika Röther. Allein im Jahr 2011, rechnet der Leiter des Rechnungswesens des Krankenhauses, Johann Marx, vor, habe man knapp 200 000 Euro ausbuchen müssen. Allesamt Kosten von Fällen, bei denen die Patienten nicht zahlen konnten. Üblicherweise werde bei der Aufnahme ein Antrag über die Übernahme der Kosten zum Beispiel beim Sozialamt gestellt, es sei denn, die Aufnahme passiere nachts. Dann werde das am Morgen nachgeholt.

Sie muss operiert werden

„Wir loten alle Möglichkeiten aus, dazu gehören auch Ratenzahlungen“, sagt seine Mitarbeiterin Marion Degner. Allerdings hätten viele Betroffene Angst, offen zu sprechen. Migranten befürchteten oft, ausgewiesen zu werden. Dabei unterliege das Klinikpersonal der Schweigepflicht. „Die Leute müssen sich trauen, viele würden die Kosten erstattet bekommen“, sagt Degner. Das Sozialamt bestätigt, dass es „bei Notfällen“ zahlt. Ein zu operierender Gallenstein klinge für ihn nach einem Fall, bei dem sie die Kosten übernehmen würden, sagt der Amtsleiter Walter Tattermusch.

Maria hält Jolandas Hand. Die Prostituierte liegt in der Notaufnahme am Tropf. Schmerzmittel fließt in ihre Vene. Gerade hat Jolanda die Botschaft vom Arzt bekommen, dass sie operiert werden müsse – in den nächsten Tagen. Akut bestehe keine Lebensgefahr. „Sie haben eine tickende Zeitbombe im Körper“, erklärt er ihr mit ernster Stimme, macht aber auch klar: „Auf eigene Rechnung können wir das nicht machen, es kommen Kosten auf Sie zu.“ Wieder ist die Rede von 3000 bis 4000 Euro.

Maria übersetzt, Jolanda schüttelt den Kopf. „Operation gut, aber kein Geld. Keine Operation.“ Sie will das Krankenhaus verlassen. Der Arzt warnt sie, nicht zu lange mit dem Eingriff zu warten. Dann geht er zum nächsten Patienten. Jolanda schaut Maria an. Sie will nach Santo Domingo fliegen und sich dort operieren lassen, sagt sie. Womit sie den Flug bezahlt? Jolanda schließt die Augen. Die Infusion wirkt. Zumindest diese Nacht wird sie keine Schmerzen mehr haben.

Nachtrag

Nachtrag:

Eine Woche später. Wieder sitzt Jolanda halb nackt auf ihrem Sofa. Vielleicht gibt es Geld für die Operation, erzählt ihr Sabine Constabel vom Gesundheitsamt. Die Sozialarbeiterin lächelt, aber nur kurz. Jolanda schüttelt den Kopf. Sie will nicht mehr in Deutschland operiert werden. Sie hat mit ihrer Familie gesprochen. Ihre Familie will, dass sie nach Hause kommt für die Operation. „Wenn du dich in Deutschland operieren lässt, stirbst du“, habe ihre Mutter gesagt. Jolanda glaubt ihrer Mutter.