Quasi über Nacht sind 35 Millionen US-Bürger blutdruckkrank geworden: Die bisherige Bluthochdruckgrenze wurde von 140/90 mmHg auf 130/80 mmHg abgesenkt. Das hat auch für Deutschland Konsequenzen.

Stuttgart - Seit Jahrzehnten ist bekannt, dass das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in der Allgemeinbevölkerung schon ab Blutdruckwerten von über 115/75 mmHg ansteigt. Ein erhöhter Blutdruck ist der Risikofaktor schlechthin für einen Schlaganfall. Trotzdem war bislang in den USA und in Europa ein Blutdruck von 140/90 mmHg als Grenze für Bluthochdruck festgelegt. Ein Gremium der American Heart Association und des American College of Cardiology hat nun beschlossen, diesen Wert auf 130/80 mmHg zu senken. Wer bis dato in den USA hochnormale Werte (130 bis 139 mmHg) hatte, hat jetzt Bluthochdruck (Hypertonie) vom Grad 1. Und wessen Blutdruck bisher normal (120 bis 129 mmHg) war, hat nun hochnormale Werte.

 

Damit weisen neuerdings 46 Prozent der US-Bevölkerung krankhafte Blutdruckwerte auf – das entspricht etwa 103 Millionen Betroffenen. Die Zahl der Patienten hat sich damit bei Männern unter 45 Jahren verdreifacht, bei Frauen verdoppelt. „Diese Zahlen sind ziemlich erschreckend“, sagt Robert M. Carey, Medizinprofessor an der University of Virginia und einer der Leitlinienautoren. Der Bluthochdruckexperte Roland Schmieder vom Universitätsklinikum Erlangen sieht die Vorgehensweise der US-Kollegenallerdings als aggressiv an: „Das ist ein Paukenschlag, plötzlich müssen sich viele Menschen krank fühlen.“

Anlass für die neue Grenzfestlegung ist unter anderem die 2015 veröffentlichte sogenannte SPRINT-Studie (Systolic Blood Pressure Intervention Trial). Sie hatte ergeben, dass ein unter 120 mmHg abgesenkter systolischer Blutdruck – auch bei rüstigen älteren Menschen – besser vor Herzinfarkt, Schlaganfall, Herzinsuffizienz oder einem Herz-Kreislauf-Tod schützt und die Gesamtsterblichkeit stärker verringert als der höhere Wert unter 140 mmHg. Bisher waren Werte zwischen 130 und 139 mmHg als Alarmzeichen zu sehen.

Gewichtsabnahme, gesunde Ernährung, viel Bewegung

„Es ist Zeit, mittels Lebensstiländerungen etwas zu tun, um den Blutdruck nicht weiter ansteigen zu lassen oder, noch besser, ihn abzusenken“, so Schmieder. Dazu gehöre eine Gewichtsabnahme, kochsalzarme Kost, gesunde Ernährung und möglichst viel Bewegung. Künftig soll gemäß den US-Leitlinien ein erhöhter Blutdruck früher als bisher mit einem veränderten Lebensstil und bei einigen Patienten mit Medikamenten behandelt werden. Zu Letzteren gehören all jene, die ein mindestens zehn Prozent betragendes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in den kommenden zehn Jahren haben. Das trifft auf circa vier von fünf der US-Bürger über 65 Jahre zu sowie auf jüngere Patienten mit Typ-2-Diabetes, Nieren- oder Herzkrankheiten. Interessierten, die ihr Risiko selbst bestimmen wollen, empfiehlt die US-Leitlinie folgenden Internet-Kalkulator: ccccalculator.ccctracker.com.

Aufgrund der neuen Bluthochdruckgrenze werden laut Carey wohl 4,2 Millionen der insgesamt 35 Millionen neuen Blutdruckkranken empfohlen, Bluthochdruckmedikamente einzunehmen. All jene Patienten, die bereits vorher Medikamente eingenommen haben, um ihren Blutdruck unter die alte Grenze von 140/90 mmHg zu senken, werden, um nun unter den neuen Grenzwert zu kommen, ein weiteres Medikament oder höhere Dosierungen benötigen, sagte Carey gegenüber der „New York Times“. Bei hochnormalen Werten liegen bislang keine Beweise dafür vor, dass die medikamentöse Blutdrucksenkung positive Effekte hat, sagt der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Hochdruckliga (DHL), Bernhard Krämer.

Ab wann sollten Patienten zu Medikamenten greifen?

Bluthochdruckmedikamente dürften künftig also stärker nachgefragt werden. Eine Beeinflussung der Studienergebnisse durch die Pharmaindustrie schließt Schmieder jedoch aus, weil die Studien gemäß eines Standardverfahrens durchgeführt wurden.

Es sollte aber nicht unerwähnt bleiben, dass durch die Einnahme von blutdrucksenkenden Medikamenten das Risiko für Nierenprobleme steigt. Das bedeutet, es muss bei jedem Patienten geklärt werden, was für ihn gefährlicher ist: die Medikamentennebenwirkungen oder das Herz-Kreislauf-Risiko.

Ist nun damit zu rechnen, dass die europäischen Leitlinien für Bluthochdruck nachziehen? Die DHL empfiehlt aufgrund von Studien und Metaanalysen in den vergangenen fünf Jahren bereits jetzt bei Herz-Kreislauf-(Hoch-)Risikopatienten, den Blutdruck unter 135/85 mmHg zu senken. Eine der Studien, die vor zwei Jahren beendete SPRINT-Studie, ist allerdings nicht ganz unumstritten. Der leicht beeinflussbare Blutdruck wurde nicht durch den Arzt oder seine Assistentin gemessen, wie im Praxisalltag üblich, sondern automatisiert unter besonderen Bedingungen. Das deckt sich nicht mit dem Praxislalltag und erschwert den Vergleich mit Ergebnissen anderer Studien.

„Die Zielwerte werden auch in Europa sinken“

Unterm Strich ergibt sich eine klare Empfehlung hin zu niedrigeren Blutdruckwerten. „Die Blutdruckzielwerte werden voraussichtlich auch in Europa sinken. Wir werden eigenständige Leitlinien mit moderaten individuellen Zielen für die Blutdruckabsenkung haben“, sagt Schmieder, der an der Erstellung der Europäischen Leitlinien für Hypertonie mitwirkt.

Bei der Frage, wer wie behandelt werden soll und wie stark bei älteren Menschen der Blutdruck zu senken sei, sagt Schmieder, müsse man genau hinsehen. „Je älter und kränker jemand ist, kann eine zu starke Blutdruckabsenkung sehr nachteilig und zum Beispiel mit Schwindel verbunden sein.“ Das erhöhe das Sturzrisiko.

Ganz so einfach ist es allerdings auch nicht mit der Blutdrucksenkung. In Deutschland erreichen weniger als 60 Prozent den moderaten Zielblutdruckwert von 135/85 mmHg. Das liegt mitunter an mangelnder Motivation des Einzelnen und auch am Unwissen über die Gefährlichkeit eines erhöhten Blutdrucks. „Therapietreue ist das A und O für eine erfolgreiche Blutdruckabsenkung“, betont Schmieder.

So wird der Druck gesenkt

Lebensstil:
Wer übergewichtig ist, kann seinen Blutdruck mit einem Kilo weniger um etwa einen Punkt absenken. Eine spezielle Diät, die DASH-Diät, bringt elf Punkte. 90 bis 150 Minuten Sport pro Woche drücken den Blutdruck um fünf bis acht Punkte. Wichtig ist zudem, viel Gemüse, Obst, Vollkornprodukte, Fisch, nur weißes Fleisch und fettarme Milchprodukte zu sich zu nehmen. Die Effekte von Kochsalzeinsparungen sind wichtig, aber schwer zu bemessen. Bei Alkohol sollte man wegen dessen blutdruckerhöhender Wirkung zurückhaltend sein.

Medikamente: Arzneimittel müssen kombiniert und auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten abgestimmt werden. ACE-Hemmer kombiniert mit Kalziumantagonisten stellen bei vielen Patienten derzeit die wirkungsvollste blutdrucksenkende Therapie dar. Medikamente wie Amphetamine und Prednison sowie nicht-steroidale Schmerzmittel wie Aspirin, Ibuprofen und Celebrex erhöhen den Blutdruck.