Das Siegel „Zahnmännchen“ gibt Auskunft darüber, ob eine Limo oder Brause dem Zahnschmelz schadet. Vier Versuchspersonen müssen dafür die Getränke mit einem Sensor im Mund testen. Ein Besuch im Labor.

Witten - Aus dem rechten Mundwinkel von Klaus Gottwald führt ein Kabel heraus, seine Stimme klingt leicht nuschelig. Er sitzt auf einem schlichten Stuhl vor einer weißen Wand. Seine Weste hat der rüstige Rentner anbehalten. Auf seinem Schoß liegt ein Tablet-PC, mit ihm liest der 72-Jährige während der Wartezeit – ein Beleg jener Aufgeschlossenheit gegenüber Technik und Wissenschaft, die ihn heute zum wiederholten Mal hierhergeführt hat. „Ich möchte etwas für die Forschung tun“, sagt Gottwald. Er ist eine von vier Versuchspersonen in der Abteilung für Zahnerhaltung und Präventive Zahnmedizin der Universität Witten/Herdecke, angeschlossen an ein Messgerät, das es weltweit nur noch in Zürich und Peking gibt.

 

Zwei Stunden hat der Bochumer heute eingeplant. Er muss die Getränke zwei Minuten im Mund umspülen, mit einer Elektrode in seiner Zahnprothese, die ermittelt, ob das Getränk Zähne schädigen kann. Ist das nicht der Fall, darf der Hersteller sein Produkt mit dem „Zahnmännchen“ der „Aktion zahnfreundlich“ schmücken. Mehr als 100 Lebensmittel in Deutschland erfüllen die Kriterien bereits. „Bei den Zähnen gilt das Gleiche wie an Halloween“, erklärt Stefan Zimmer, „Süßes oder Saures – beides schädigt den Zahn.“

Säuren, wie sie vor allem in Sportgetränken, aber auch in klassischen Limonaden und vielen anderen Getränken vorkommen, greifen direkt den Zahn an. Erosion nennen Zahnärzte das. Normalerweise liegt der pH-Wert im Mund zwischen 6,5 und 7,4. Das ist individuell verschieden, schwankt aber beim Einzelnen nur um etwa zwei Zehntel. Fällt der pH-Wert im Mund unter 5,7, ätzt die Säure langsam, aber sicher den Zahnschmelz weg. Über einen Umweg geschieht das Gleiche durch den Haushaltszucker Saccharose oder andere Zuckerarten wie Frucht- oder Traubenzucker: Sie alle nähren Bakterien, die sich als Plaque zwischen den Zähnen sammeln und mit ihrem Stoffwechsel problematische Säuren bilden.

Längst nicht jeder eignet sich als Testperson

Der Zahntechniker Christian Greune ist dafür zuständig, den Probanden wie Klaus Gottwald die Spezialprothese mit der Messelektrode einzusetzen. „Damit stellen wir fest, welche Nahrungsmittel welche Veränderungen des pH-Werts, also des Säurespiegels, an der Zahnoberfläche bewirken“, erläutert Zimmer. Gottwald kaut inzwischen auf einem Paraffinblättchen, um den Speichelfluss anzuregen.

Bevor es an die richtige Messung geht, tröpfelt Greune seinem Probanden eine Lösung auf die Messelektrode im Mund, um deren Funktion zu kontrollieren. Zwei Flüssigkeiten mit den pH-Werten 7,0 und 4,0 dienen dazu, den Sensor zu eichen, damit anschließend die an der Elektrode gemessene Spannung korrekt in pH-Werte umgerechnet werden kann. Anfangs sei durch das Kabel im Mundwinkel immer Speichel ausgeflossen, erinnert sich Gottwald. Inzwischen habe er genug Übung. Auch die Sonde funktioniert heute wieder einwandfrei, der Versuch kann beginnen.

„Mehr als 500 Kandidaten haben wir geprüft, um unsere vier Probanden zu finden“, sagt Projektleiter Zimmer. Die Teilnehmer müssen nicht nur eine Zahnlücke an der richtigen Stelle haben, sondern auch einen durchschnittlichen Speichelfluss, damit die Ergebnisse auf andere Menschen übertragen werden können. Nur ein Patient der Zahnklinik erfüllte die Kriterien, die übrigen drei fand Zimmer über die Zeitung. „Ohne das bevölkerungsreiche Einzugsgebiet der Universität hätten wir die Messstation nicht aufbauen können“, sagt er.

Jedes Produkt muss an vier Personen gemessen werden, um mit dem „Zahnmännchen“-Siegel zertifiziert zu werden. Ausnahmen gibt es für neue Geschmacksrichtungen bereits getesteter Produkte, wenn von den Aromen bekannt ist, dass sie keine Zucker enthalten.

Tipps bei säurehaltigen Lebensmitteln

Die Prothesen mit der Elektrode anzufertigen habe einige Schwierigkeiten bereitet, erläutert Zimmer. Die Elektrode muss wasserdicht in der Prothese befestigt werden und verlässlich messen, obwohl der Speichel elektrisch geladene Teilchen enthält und die Spannungsmessung verfälschen kann. Zweieinhalb Jahre und 100 000 Euro haben die Vorbereitungen verschlungen, bis die Forscher vor wenigen Monaten ihre Akkreditierung erhielten.

Auch das heutige Testgetränk wird wohl sein „Zahnmännchen“-Siegel erhalten, es hat den Säurewert im Mund von Klaus Gottwald kaum verändert. „Die Firmen lassen ja nur Produkte testen, von denen sie erwarten, dass sie zahnfreundlich sind“, sagt Zimmer. „Manchmal kann aber schon ein bisschen Zucker im Farbstoff zum Problem werden.“ Als Zutat sei Zucker stets durch Süßstoffe oder Zuckerersatzstoffe ausgetauscht. Kariesbakterien können die Stoffe nicht verwerten, die Zähne werden nicht angegriffen.

Kaugummis können den pH-Wert neutralisieren

Für Säuren gebe es allerdings keinen zahnfreundlichen Ersatz, betont Zimmer. Und es sei obendrein ein Fehler, direkt nach dem Verzehr säurehaltiger Lebensmittel die Zähne zu putzen. „Damit schrubbt man den angeweichten Bereich des Zahns weg“, warnt der Zahnmediziner.

Ein bisschen Abhilfe gibt es jedoch: Kalziumhaltige Produkte wie Milch mindern den Schaden, den zuvor die Säuren angerichtet haben. Und das Kauen eines zahnfreundlichen Kaugummis nach dem Essen bewirkt, dass der pH-Wert an der Zahnoberfläche neutralisiert wird. Gegen Zahnentkalkung, egal ob direkt durch Nahrungsmittel oder bakterielle Säuren, hilft Fluorid. „Daher sollten Sie Ihre Speisen möglichst mit Fluoridsalz würzen, denn jede Mahlzeit führt zu Säurebildung in der Plaque, auch die Rindsroulade mit Kartoffeln“, sagt Zimmer.

14 Produkte haben die Wittener dieses Jahr schon getestet. Obwohl alle den Test bestanden haben, werden vielleicht nicht alle das offizielle Siegel tragen. „Manche Hersteller erfinden eigene Logos, um Geld zu sparen“, sagt Zimmer. Den Firmen gehe es vor allem um die Gewissheit, dass ihre Produkte zahnfreundlich sind. Speziell in klagefreudigen Ländern wie den USA solle damit auch möglichen Prozessen vorgebeugt werden. Doch das sind Details, die Klaus Gottwald nicht mehr interessieren. Er setzt bereits wieder seine normale Prothese ein und rückt die Weste zurecht. Sein Job ist für heute erledigt.