Die Bakterien, die jeder Mensch in sich trägt, machen anderthalb Kilogramm aus. Klar ist, dass diese Mikroben eine wichtige Rolle spielen. Womöglich haben sie mit Depressionen, MS und Fettleibigkeit zu tun. Doch medizinisch nutzen lässt sich das noch nicht.

Stuttgart - Jeder Mensch bildet eine riesige Wohngemeinschaft. Etwa 100 Billionen Bakterien leben auf und in unserem Körper. Zusammen bringen die Mikroben eineinhalb Kilo auf die Waage. Seit einigen Jahren versuchen Wissenschaftler die Funktion dieser überlebenswichtigen Bakterien zu entschlüsseln. Keine leichte Aufgabe: nach Schätzungen leben allein im Darm etwa 1400 Arten von Bakterien in mehr oder weniger friedlicher Koexistenz mit dem Menschen. Sie leisten viel mehr als nur einen Helferdienst bei der Verdauung. Das Mikrobiom, wie die Gesamtheit aller Bakterien im und auf dem Menschen genannt wird, produziert Botenstoffe für andere Teile des Körpers und unterstützt das Immunsystem. Es könnte sogar sein, dass die kleinen Mitbewohner sich über das ausgeprägte Nervensystem des Darms direkt mit dem Gehirn verständigen.

 

Die Forscher haben bereits eine Reihe interessanter Vitamine und Hormone gefunden, die von einigen Arten der bisher unscheinbaren Darmbewohner als Stoffwechselprodukt hergestellt werden – sogar das Glückshormon Dopamin gehört dazu. Macht Essen also glücklich, wenn eine bestimmte Bakterienart in ausreichender Menge im Darm vorkommt? Zudem sucht die Wissenschaft nach negativen Auswirkungen. Die falsche Mischung der Lebewesen auf den Schleimhäuten steht im Verdacht, verschiedene Krankheiten auszulösen: Depressionen, Autismus, Multiple Sklerose, Rheuma, Fettleibigkeit, Diabetes oder Darmentzündungen (Morbus Crohn, Colitis ulcerosa) – sie alle könnten ihre Ursache im falschen Zusammenspiel zwischen Mensch und Bakterien haben.

Mit jedem neuen Indiz werden Therapien erdacht, bei denen das Mikrobiom aktiv für die Gesundheit eingesetzt werden soll. Eine Ernährungsumstellung könnte Krankheiten bekämpfen, weil sie die Ausbreitung der vermeintlich besseren Bakterien fördert. Auch Lebensmittel- und Pharmaindustrie entwickeln Produkte für den Eingriff in die Darmflora. Am weitesten fortgeschritten sind Abnehmhilfen. Weil dünne Menschen von anderen Bakterien besiedelt werden als Übergewichtige, soll der Austausch der Mitbewohner den Gewichtsverlust erleichtern.

Die Versprechungen hinken den Erkenntnissen hinterher

William P. Hanage, Professor an der Harvard University, spricht von einem Goldrausch der Medizin, obwohl noch nicht einmal der Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Krankheit bewiesen sei. Die marktschreierischen Versprechungen würden den wissenschaftlichen Ergebnissen weit vorauseilen, schreibt er im Wissenschaftsmagazin „Nature“. Der aktuelle Hype um das Mikrobiom benötige eine gesunde Portion Skepsis.

Kerstin Berer, die am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried bei München in der Gruppe von Hartmut Wekerle den Zusammenhang zwischen Mikrobiom und Multipler Sklerose (MS) erforscht, teilt die Kritik. Sie verweist auf ein anderes Problem: Die Reaktion des Menschen auf seine Bakterien werde stark durch Gene und Ernährung beeinflusst. „Wenn Mikroben bei einer Person Unheil anrichten, dann können sie für eine andere ungefährlich sein“, erläutert die Biologin.

Labormäuse mit einer speziellen Veranlagung für MS sollen die richtige Spur liefern. Berer entdeckte, dass sich die Krankheit bei den Tieren nicht entwickelte, wenn sie keimfrei gehalten wurden. Erst als die Mäuse eine Darmflora entwickelten, erkrankten sie auch an MS. Auf den Menschen bezogen taugt das nicht als Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Darmbakterien und der neurologischen Erkrankung. Es ist wie bei der Henne und dem Ei: Was war zuerst da? „Wir können nicht sagen, ob sich das spezielle Mikrobiom als Folge einer Erkrankung entwickelt hat oder ob die Bakterien die Erkrankung ausgelöst haben“, sagt Kerstin Berer. Vielleicht ist ein veränderter Bakterienmix im Darm nicht mehr als eine Art Symptom: So wie ein Grippekranker an Fieber leidet, aber das Fieber nicht Auslöser der Infektion ist. Eine Studie mit eineiigen Zwillingen, bei denen eines der beiden Geschwister an MS erkrankt ist, soll jetzt mehr Klarheit schaffen.

Wie sich die Darmflora verändern kann

Die persönliche Ausprägung der Darmflora ist mit 18 Jahren abgeschlossen. Bestimmte Gruppen von Bakterien werden bei fast allen Menschen gefunden – eine Art biologische Grundausstattung. Dazu gesellen sich dann Spezialisten, die vermutlich den Ernährungsstil und andere Lebensumstände widerspiegeln und eine große Vielfalt in den Darm bringen. Viele Forscher sorgen sich um den Aufbau dieses Bakterienpools bei Babys und Kleinkindern. Sie befürchten gesundheitliche Probleme im Verlauf des Lebens, wenn der junge Mensch nicht gleich zu Beginn von gut gesinnten Bakterien besiedelt wird. Viele Menschen halten diesen Ansatz für plausibel – wissenschaftlich gesichert ist er kaum. Untersuchungen zeigen, dass sich das Mikrobiom von Babys mehrfach wandelt. Vielleicht spielen andere Faktoren beim heranwachsenden Menschen eine weitaus größere Rolle als die Erstausstattung nach der Geburt.

Der amerikanische Biologe Eric Alm hat am Massachusetts Institute of Technology (MIT) gemeinsam mit seinem Doktoranden Lawrence David einen Selbstversuch unternommen. Sie untersuchten mit den Instrumenten des MIT jeden Tag eine Probe ihrer Exkremente und ihres Speichels. Entstanden ist das weltweit erste Tagebuch der Veränderung der Bakterienwelt in Darm und Mund. Das Ergebnis war zunächst wenig aufregend, denn das Mikrobiom blieb erwartungsgemäß recht stabil. Aber als David einige Wochen in Asien verbrachte, veränderte sich die Darmflora. Einige Bakterienarten profitierten vom Umgebungswechsel, andere nahmen zahlenmäßig ab. Nach der Rückkehr ans MIT stellte sich rasch der alte Zustand wieder her. Anders bei Eric Alm: Er zog sich eine Salmonellen-Vergiftung zu – und seit diese abgeklungen ist, besitzt Alms Mikrobiom eine deutlich andere Zusammensetzung.

Die Forscher sind sich einig, dass viele Ursachen solche teils drastischen Veränderungen in der Mischung der verschiedenen Bakterienfamilien bewirken können. Eine Behandlung mit Antibiotika tötet nicht nur krankmachende Bakterien ab, sondern greift auch das Mikrobiom an. Generell können Infektionskrankheiten, Umwelteinflüsse, aber auch körperliche Aktivität ihre Spuren in der Bakterienpopulation hinterlassen. Ob das Auswirkungen auf die Gesundheit hat, lässt sich wohl erst sagen, wenn das Mikrobiom besser verstanden ist.

Eric Alm fühlt sich trotz der Veränderung in seinem Mikrobiom übrigens völlig gesund.