Die Menschen werden immer älter und brauchen daher öfter einen Arzt. Doch die Zahl der niedergelassenen Mediziner sinkt. Viele Pensionäre finden keinen Nachfolger. Bald droht landauf, landab ein eklatanter Ärztemangel.

Sindelfingen - Wenn Hans-Joachim Rühle im Juli seine Hausarztpraxis in Sindelfingen schließt, dann geht eine Ära zu Ende. Ganze Generationen von Familien sind hier Jahrzehnte lang ein- und ausgegangen. Rühle hat die Praxis einst von seinem Vater übernommen. Gerne würde er sie an einen Nachfolger übergeben. Doch der ist nicht in Sicht. Deshalb ist nun nach 62 Jahren alles zu Ende.

 

„Mir blutet das Herz“, sagt der Arzt. Aber weitermachen komme nicht in Frage. „Ich werde im Juli 68, arbeite dann schon drei Jahre länger als normal. Irgendwann muss man einen Schnitt machen.“ Probiert hat Rühle in den vergangenen Jahren vieles, um einen jungen Arzt für seine alteingesessene Praxis zu begeistern. „Ich habe viel Geld für Anzeigen ausgegeben und es auch über die Kassenärztliche Vereinigung versucht. Alles war umsonst“, sagt der Mediziner mit Bedauern. Abgewartet hat er nur noch, bis seine Auszubildende im Juni ihr Examen macht. Zwei weitere Teilzeitkräfte, die bei ihm arbeiten, waren nur für kurze Zeit eingesprungen. So muss der Arzt zumindest niemanden entlassen. Bedauern werden die Praxisschließung aber seine Patienten. Wie viele er genau hat, sagt der Mediziner nicht. „Ich liege im Schnitt“, und der liege bei 800 und 900 Patienten.

Jeder dritte Hausarzt ist älter als 60 Jahre

Rühle ist nicht der einzige Mediziner in Sindelfingen, der ohne Nachfolger dasteht. Von den momentan 23 Hausärzten würden acht demnächst aufhören. „Davon haben nur zwei einen Arzt gefunden, der die Praxis übernimmt.“ Und das Problem werde sich in den kommenden Jahren verschärfen, prophezeit der Vorsitzende der Böblinger Kreisärzteschaft. „In zwei, drei Jahren haben wir dann auch die Nachfolgeprobleme bei den Fachärzten.“

Laut der Statistik der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ist jeder dritte Hausarzt in Baden-Württemberg 60 Jahre oder älter, geht also in den kommenden fünf Jahren in den Ruhestand. Noch dramatischer ist die Situation im Kreis Böblingen bei den Orthopäden (41 Prozent sind mindestens 60 Jahre alt) und den Psychotherapeuten (45 Prozent). Ähnlich sieht es auch in anderen Kreisen der Region aus: 38 Prozent der Hausärzte in den Kreisen Ludwigsburg und Göppingen sind älter als 60, 55 Prozent der Psychotherapeuten im Rems-Murr-Kreis sowie 50 Prozent im Kreis Esslingen gehen in den kommenden fünf Jahren in den Ruhestand. Kai Sonntag, der Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung Baden-Württemberg spricht von aktuell 480 offenen Hausarztstellen im Land. In fünf Jahren dürften es noch deutlich mehr sein.

„Eine jahrzehntelange falsche Politik“ macht der Sindelfinger Rühle dafür verantwortlich. „Man hat die Zahl der Studienplätze nicht erhöht, obwohl durch die Wiedervereinigung mehrere Millionen Menschen dazu gekommen sind. Vor allem aber sieht er in der Zulassung zum Studium das größte Problem. „Wenn man nur die Leute mit Einser-Schnitt Medizin studieren lässt, dann sagen viele von denen, für 65 Euro pro Quartal und Patient arbeite ich nicht.“ 15 Prozent aller Absolventen würden gar nicht als Mediziner arbeiten. „Wir brauchen Ärzte mit Empathie und sozialer Ader.“ Diese aber dürften zumeist nicht studieren, weil die Noten nicht ausreichen.

Junge Ärzte arbeiten lieber als Angestellte und in Teilzeit

Kai Sonntag von der Kassenärztlichen Vereinigung sieht das differenzierter. „Es gibt einen gesellschaftlichen Trend zur anderen Arbeitsweisen, der sich auch auch auf den medizinischen Bereich auswirkt“. So würden heute viele junge Ärzte nicht mehr in Vollzeit arbeiten wollen. „Work-Life-Balance ist ein großes Thema.“ Auch seien mehr Frauen als Männer unter den Ärzten. „Die wollen oft wegen der Kinder nur Teilzeit arbeiten“, sagt er.

Deshalb bräuchte man heute andere Modelle. „Anfang der 1990er Jahre gab es keine angestellten Ärzte im ambulanten Bereich. Heute ist jeder zweite Arzt, der anfängt, angestellt.“ Dafür benötige man größere Praxen statt der gewohnten Einzelpraxen. Dann könnten mehrere Ärzte zusammen arbeiten und auch Kollegen anstellen. Ärzte, die sich trotzdem selbstständig machen wollen, können auf großzügige Unterstützung der KV und das Land hoffen. „Wenn in einer Region Ärzte gesucht werden, fördern wir Interessenten. Das können bis zu 80 000 Euro sein“, sagt Sonntag. Er weiß auch von Ärzten, die ihre Praxen verschenken. Trotzdem finden sich nicht genügend Nachfolger.

Stadt- und Kreisverwaltungen suchen

Deshalb ist das Thema nun auch bei den Kommunalpolitikern angekommen. „Bei uns im Rathaus diskutieren wir verschiedene Möglichkeiten, wie wir die Ansiedlung von Ärzten fördern können“, sagt die Sindelfinger Stadtsprecherin Nadine Izquierdo. „Aber das ist nicht so einfach. Wir können ja nicht einen Arzt anstellen.“

Auch die Kreisverwaltung hat sich intensiv mit dem drohenden Ärztemangel auseinandergesetzt. Sie gibt Empfehlungen, wie dieser angegangen werden kann. Eine Möglichkeit sei die Bildung sogenannter Regionalpraxen, zu der sich mehrere Ärzte zusammenschließen. Wichtig sei dabei auch, dass die Kommunen für eine Anbindung dieser Regiopraxen an den Öffentlichen Nahverkehr sorgen. Abhilfe schaffen könnte auch die Qualifizierung medizinischer Fachangestellter zu Versorgungsassistentinnen. Diese können zum Beispiel die Medikamenteneinnahme älterer Patienten überwachen, ohne dass diese ständig in die Praxis müssen.

Telemedizin soll Ärzte und Patienten entlasten

Kreis Böblingen
Der Kreissprecher Dusan Minic weiß aktuell von 21 Praxen (Haus- und Fachärzte) im Großraum Böblingen/Sindelfingen, die Probleme haben, einen Nachfolger zu finden. Eine Idee, demzu begegnen ist die Schaffung von Facharztzentren an den Kliniken im Kreis.

Region
Relativ jung sind die Mediziner im Enzkreis: nur jeder vierte Hausarzt geht bald in Rente, nur sechs Prozent der Frauenärzte sind älter als 60. Wenig Probleme gibt es in der Region Stuttgart bei den Augenärzten. Diese sind meist jünger als die Kollegen anderer Fachrichtungen.

Telemedizin
Entlastung für Ärzte und Patienten erhoffen sich Experten auch von den Möglichkeiten der Telemedizin. Dabei können Mediziner die Patienten durch audiovisuelle Technologie untersuchen: der Patient ist zuhause, der Arzt sitzt am Bildschirm und kommuniziert per Telefon.