Hat ein anderer Pfarrer von den Übergriffen in der Brüdergemeinde gewusst und wollte dies gar ausnutzen? Berichte von Betroffenen legen das nahe.

Korntal-Münchingen - War es über die Korntaler Ortsgrenzen hinaus bekannt, dass dort Kinder missbraucht wurden? Berichte von Betroffenen liefern Hinweise darauf, dass sexuelle Übergriffe in den Einrichtungen der evangelischen Brüdergemeinde vermutlich zumindest in der protestantischen Gemeinde im wenige Kilometer entfernten Ditzingen bekannt gewesen sind. Möglicherweise haben sich die Pfarrer darüber ausgetauscht.

 

Der langjährige Pfarrer der Korntaler Brüdergemeinde hat sich womöglich an Jungs vergangen, dies bestätigt inzwischen ein zweites mutmaßliches Opfer. Sein Amtskollege in Ditzingen wusste vermutlich davon. Ein heute 67-jähriger Ditzinger, der anonym bleiben möchte, beschreibt diesen als robusten, mehr als hundert Kilo schweren Mann: „Er war ein Kumpeltyp.“ Allerdings sei er als Konfirmand im Frühjahr 1964 von dem Seelsorger eindeutig zweideutig angesprochen worden. Sie seien sich gegenüber gesessen, plötzlich habe der Pfarrer die Hand auf seine gelegt und gefragt, ob er sich das, was ihm in Korntal widerfahren sei, auch mit ihm vorstellen könne. Damals sei er 14 gewesen. „Ich war nicht geschockt“, sagt der Mann, der auch heute nicht ausnahmslos schlecht über den Seelsorger spricht. Schließlich sei es auch ein Vertrauensbeweis gewesen. Doch er habe nicht gewollt. Damit sei das Thema beendet gewesen, sowohl für ihn wie für den Pfarrer.

Pfarrer bittet den Jungen ins Pfarrhaus

Dieser hatte den Jungen vor dem Konfirmandenunterricht zu sich ins Pfarrhaus gebeten, angeblich, um mit ihm über die anstehende Konfirmation zu reden. Dass er dann auf die Verhältnisse in Korntal zu sprechen gekommen sei, habe ihn damals nicht gewundert. „Er wusste ja, dass ich in Korntal war.“

Weil der 14-Jährige als schwierig galt, ging er in Korntal zur Schule und verbrachte die Freizeit dort im Kinderheim Hoffmannhaus. Abends und am Wochenende war er zuhause. Im Hoffmannhaus sei er mehrfach vom Hausmeister missbraucht worden. Auch wenn sich dies tief eingebrannt habe, habe er es damals nicht als Missbrauch empfunden, sagt der Ditzinger: Der aufkeimenden Lust und der Aufmerksamkeit wegen, die ihm der Hausmeister und eben auch der Ditzinger Pfarrer zuteil werden ließ, der später als Lehrer nach Ludwigsburg ging.

Der Korntaler Hausmeister holte jedes Jahr mit dem Traktor und Heimkindern auf dem Anhänger in der Ditzinger Gemeinde des genannten Pfarrers die Erntedankgaben ab. „Wir machten das gerne“, erzählt Detlev Zander, ein anderes ehemaliges Heimkind. Nicht nur der Fahrt wegen: „Die Äpfel waren gut.“

Fälle von Gewalt sind seit drei Jahren bekannt

Zander hat die Fälle von psychischer und physischer Gewalt, die es seit den 1950er Jahren in den Häusern der evangelischen Brüdergemeinde gab, vor drei Jahren publik gemacht. Nachdem diese Woche das ARD-Politikmagazin „Report Mainz“ berichtet hatte, haben sich laut Zander weitere 26 Betroffene gemeldet. Wie viele Kinder in den Einrichtungen der Brüdergemeinde Opfer von sexuellen Übergriffen waren, erniedrigt und eingesperrt wurden, ist weiterhin unklar. Verlässliche Zahlen gibt es nicht. Doch nach dem Fernsehbericht gestand die Brüdergemeinde erstmals ein, dass es sich in den Heimen um ein System der Gewalt gehandelt habe. Zuvor hatte sie von Einzelfällen gesprochen.

Zander sieht sich bestätigt: „Die vergangenen drei Jahre waren nicht umsonst.“ Die laufende Aufklärung kritisiert er dennoch. Er fordert ein Kuratorium, damit nicht mehr eine Juristin allein die Opfergespräche führt, auch die Vorbeugung müsse besser werden: „Keiner soll mit einer solchen Hypothek entlassen werden wie wir.“