Der Aufruhr in Griechenland nimmt kein Ende. Nach den Wahlen werden Proteste erwartet. Seine Wurzeln hat der Widerstand im Athener Viertel Exarchia, einem einst bürgerlich-vornehmen Viertel.

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Athen - Selbst in ruhigen Zeiten wagt sich die Polizei nur im Konvoi in diese Ecke Athens – meist mit der Hand an der Waffe. In Exarchia, einem einst bürgerlich-vornehmen Viertel, ist die Anarchie zu Hause. Hier gelten eigene Gesetze, die Botschaft der Graffiti an den Wänden ist eindeutig, sie lautet Rebellion. Gegen den Staat, die Politik, das System, die beengenden Regeln der Elterngeneration. Dealer hocken in Hauseingängen, sie gehen in aller Ruhe ihren Geschäften nach. An heißen Tagen treibt der Wind einen süßlich-beißenden Geruch durch die Straßen, eine Mischung aus Abgasen, Urin und Marihuana.

 

Wer in einem der zahllosen Straßencafés sitzt, hat Zeit. Und davon haben viele junge Griechen mehr, als ihnen lieb ist. „Die Politiker haben uns in diese Situation gebracht“, sagt Kostas. Der Student weiß, dass seine Chancen auf eine Festanstellung immer schlechter werden. Die Arbeitslosigkeit liegt insgesamt bei 20,5 Prozent, nach der Uni findet die Hälfte der Absolventen keinen Job. Die Frustration ist riesig, die Verschuldung hoch, denn viele Familien haben Kredite aufgenommen, um die Studiengebühren oder Ausbildungskosten finanzieren zu können.

Doch wer soll das Land retten? Die Studenten im Café sind unschlüssig. „Sollen wir dieselben Köpfe wieder ins Parlament wählen und wieder an die Fleischtöpfe bringen?“ Die Umfragen für die Schicksalswahl am Sonntag sagen, dass es knapp wird – ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Konservativen der Nea Dimokratia und dem Bündnis der radikalen Linken. Vermutlich schafft keiner eine absolute Mehrheit von 151 der insgesamt 300 Sitze im griechischen Parlament. Gewinnen die Gegner des schmerzhaften Spar- und Reformkurses, droht Griechenland die sofortige Pleite und der Ausstieg aus der Eurozone.

Die leise Wut ist immer da. Sie treibt Kostas und seine Kommilitonen um, sie lässt sich nicht mehr unterdrücken. Sie richtet sich nicht gegen einzelne Akteure, sondern gegen das griechische System an sich. Ein Land wie ein Selbstbedienungsladen, sagen sie. Jeder habe sich bereichert, wo es ging, über Jahrzehnte. Ein ganzes Volk habe den Glauben an den Staat und seine Redlichkeit verloren. Auch Kostas und seine Generation. „Wir verlangen nicht viel“, sagt der Student, „wir wollen nur zeigen, was wir gelernt haben.“ Kostas zögert. „Wir wollen beweisen, dass wir nicht nutzlos sind.“ Die anderen am Tisch nicken zustimmend.

Nicht nur der Protest zählt hier

Die Hoffnung haben sie nicht ganz aufgegeben. Kostas steht auf, er steuert auf eine unscheinbare Brache zu, ein paar Straßen vom Café entfernt. Bäume sind dort gepflanzt, Blumen wachsen in Kübeln – halb vertrocknet. Dazwischen haben es sich ein paar junge Männer bequem gemacht. „Hier war früher ein Parkplatz“, erzählt Petr. „Wir haben vor drei Jahren den Asphalt herausgerissen und diesen Park angelegt.“ Für Petr und seine Freunde ein Zeichen, dass nicht alles schlechter wird – und ein Beispiel dafür, dass in Athens berüchtigtem Stadtteil nicht nur der Protest zählt. „Wir sind nicht gewalttätig, aber wir wehren uns“, sagt Petr und schneidet die Luft mit seinem erhobenen Zeigefinger.

Die Erfahrung, sich wehren zu müssen, begründet den Mythos der anarchischen Szene in Exarchia und gehört zur Geschichte des griechischen Volkes im 20. Jahrhundert. Schon die Großväter der Studenten, die heute in Exarchia wohnen, lebten den Widerstand, kämpften gegen die deutsche Nazibesatzung. Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte aber nicht das erhoffte Ende der Gewalt. Ein Bürgerkrieg brach aus, in dem rechtsradikale Stoßtrupps Jagd auf linke Intellektuelle und Kommunisten machten. Vielen blieb nur die Flucht ins Ausland, sie mussten untertauchen. Die Lage hatte sich kaum stabilisiert, da kam es Ende der 60er Jahre zu einem Militärputsch – die Väter der heutigen Studenten hatten zu leiden unter dem strengen Diktat der Obristenregierung.

Wieder galt es zu sich zu verteidigen gegen Unterdrückung und Gewalt. Der Gegner war ein übermächtiger, und er wurde unterstützt von den USA, was viele Griechen bis heute nicht vergessen haben. Der Kampf im Untergrund mündete in den Aufstand von 1973. Die Generäle versuchten am 17. November die Studentenproteste gewaltsam niederzuschlagen. Panzer rollten in das Viertel Exarchia, das direkt neben dem Politechnio, der Technischen Universität, liegt. Zwölf Tote wurden nach den Auseinandersetzungen gezählt. Der Druck auf die Militärjunta wuchs, das Ende der Diktatur zeichnete sich ab.

Aus ihrer Geschichte des erbitterten Widerstandes ziehen die Anarchisten bis heute ihre Legitimation – und können mit den Sympathien quer durch die Gesellschaft rechnen. Der revolutionäre Geist, mit dem die Griechen sich immer wieder ihre Freiheit erkämpft haben, ist nie wirklich aus den Köpfen der Menschen gewichen. Das ging so weit, dass linke Intellektuelle den Bombenterror akzeptierten, mit dem 20 Jahre lang Politiker und Diplomaten in Athen überzogen worden waren.

Der Gegendruck wächst

In Zeiten der Krise wächst der Gegendruck, wird der Protest gegen das marode System und die Klientelwirtschaft immer größer. Ausgangspunkt vieler Unruhen ist oft das Viertel Exarchia, die Hochburg der Anarchisten. So auch am 17. November 2008. An jenem Tag wurde, wie jedes Jahr, der Studenten gedacht, die im Kampf gegen die Diktatur einst ihr Leben lassen mussten. Die Masse schien zu ahnen, dass die von der Regierung angekündigten Reformen erst der Anfang eines langen Leidensweges sein würden. Die Stimmung war angespannt, die Situation eskalierte, Autos brannten, Geschäfte wurden geplündert. Tagelang lieferten sich Studenten und Polizei Auseinandersetzungen. Am 6. Dezember kam es zur Katastrophe – der 15 Jahre alte Alexandros Grigoropoulos wurde in Exarchia von Polizisten erschossen. Sein Begräbnis wurde zur Massenkundgebung – die Revolte hatte ein Symbol. „Alexandros’ Tod war unnötig“, sagt der junge Athener Kostas. „Alexander ist für uns gestorben“, sagt Petr. In diesem Punkt sind sich die beiden uneinig – Petr, der Anarchist, und Kostas, der Student.

Auf dem Weg zurück ins Café sagt Kostas, dass ihm dieses ewige Gerede über die Geschichte den Nerv töte. Auch die Politiker lebten nur in der Vergangenheit, wo sie nach Fehlern der Gegner suchten. Er kann nicht verstehen, dass mitten in der Krise keiner sinnvolle Pläne für die Zukunft präsentiere. „Mir ist es egal, wer Schuld hat“, sagt Kostas, „ich will nach vorne blicken.“

Nicht einmal Alexis Tsipras, der Chef der radikal linken Partei Syriza und eigentlicher Wahlgewinner der vergangenen Wahl, gibt ihm Hoffnung. Der wolle die Uhr zurückdrehen und das alte System der Alimentierung wieder einführen, ärgert sich Kostas. Aber eins gefällt ihm an Tsipras. Der Shootingstar der griechischen Politik unterwerfe sich nicht dem Diktat von EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds. „Wir Griechen haben die Nase gestrichen voll, immer wieder gesagt zu bekommen, was wir zu tun und zu lassen haben“, ereifert sich Kostas. Jeder Grieche wisse selbst, dass die Politiker des Landes und auch das Volk Fehler gemacht hätten und das System reformiert werden müsse. „Wir jungen Leute sind bereit, ein neues Griechenland aufzubauen. Alles was wir brauchen, ist eine faire Chance.“