In vielem ist Indien, wie manches andere asiatische Land, dem Westen voraus. Bereits 1966 wurde eine Frau an die Spitze der Regierung gewählt. Indira Gandhi regierte das Riesenland mit eiserner Hand. Auch heute ist eine Frau die wahre Regentin hinter Premierminister Manmohan Singh: Indiras Schwiegertochter Sonia Gandhi, die die Kongresspartei führt. Frauen arbeiten als Ärztinnen, Anwältinnen, Pilotinnen, führen Ministerien und Bundesstaaten. Den wichtigsten Botschafterposten der Welt, den in den USA, hat Indien mit einer Frau besetzt. Pakistan übrigens auch. Inder beten zu Göttinnen wie der mächtigen Durga. Es heißt „Mutter Indien“, nicht Vaterland. Die Hindu-Mythologie ist voller Sagen über Könige, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Angebetete aus Gefahr zu retten.

 

Aber es gibt auch eine andere Realität. Abermillionen Inderinnen leben wie Sklavinnen. Teile der Gesellschaft sind einem Frauenbild verhaftet, das ähnlich anachronistisch ist wie das in Afghanistan. Der Westen irrt daher, wenn er Gewalt gegen Frauen vor allem als Problem islamischer Gesellschaften verortet. Es ist ein kulturelles Problem. Nirgends lässt sich dies besser beobachten als in Südasien. Vergewaltigungen, Ehrenmorde, Säureattacken, Zwangs- und Kinderehen sind in allen Religionen verbreitet: bei Hindus, Muslimen, Sikhs und Christen.

Mädchen gelten als Bürde der Eltern

Vor allem im Hindu-Gürtel im Norden gilt Gewalt gegen Frauen als endemisch. Das Weib sei dem Manne untertan, wurde ein Satz in der Bibel einst übersetzt. Ähnlich schreibt der Hindu-Wertekatalog „Manusmriti“ die Unterordnung der Frau fest, die als schwach und lüstern charakterisiert wird. Es sei die „Natur von Frauen, Männer zu verführen“, heißt es dort. „Mädchen sollen unter der Vormundschaft des Vaters stehen, wenn sie Kinder sind, Frauen unter der Vormundschaft ihrer Ehemänner, wenn sie verheiratet sind, und unter der Vormundschaft ihrer Söhne, wenn sie Witwen sind. Unter keinen Umständen ist es ihnen erlaubt, sich eigenständig zu behaupten.“ Der Mann ist alles, die Frau zählt nichts. So auch beim Geld. Mädchen gelten als Bürde, weil die Eltern später hohe Mitgiftsummen zahlen müssen, um die „Wertlosigkeit“ der Braut aufzuwiegen. Viele Eltern müssen sich tief verschulden. In den Kreisen der Superreichen bedenken die Brauteltern den Bräutigam schon mal mit einem Helikopter. Nach der Heirat gehören das Mädchen und ihre Arbeitskraft der Familie des Mannes. „Ein Mädchen großzuziehen ist, wie den Garten des Nachbarn zu bewässern“, heißt ein geflügeltes Wort.

Nach Schätzungen der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ werden deshalb jedes Jahr 500 000 Mädchen abgetrieben oder getötet. Als Folge herrscht in vielen Regionen ein dramatischer Männerüberschuss. Indienweit kommen auf 1000 Männer 980 Frauen. Dabei sinken die Zahlen oft in den wohlhabenden Regionen, auch in der Mittelschicht. So weist das vergleichsweise reiche Delhi nur noch 821 Frauen auf 1000 Männer aus.

Objekte kann man benutzen. Man kann sie kaputt machen. Man kann sie wegwerfen. Dieser Dreiklang an Entmenschlichung spiegelte sich in der Schreckenstat vom 16. Dezember wider, als sechs Männer eine 23-jährige Studentin vergewaltigten, bestialisch verletzten und auf die Straße warfen. All das geschah nicht auf dem rückständigen Lande, sondern in der Metropole Delhi, die als relativ modern gilt. Deshalb hat die Tat, obwohl nicht beispiellos, eine beispiellose Protestwelle ausgelöst. An der Spitze standen Studenten. Gemeinsam trotzten junge Männer und Frauen Wasserwerfern, Schlagstöcken und Tränengas. Väter kamen mit ihren Söhnen. Alte Frauen rollten in Rollstühlen zu den Protesten.

In Indien tobt ein Kulturkampf. Es geht um die Frage: Nach welchem Wertesystem will das Land leben? Indien ist nicht ein Land. Es ist viele Länder. Als die Briten „Britisch Indien“ 1947 in die Unabhängigkeit entließen, bestand es aus 565 Fürstentümern. Und dies berücksichtigt nicht einmal die Naturvölker mit ihrer eigenen Kultur. Mit 1,2 Milliarden Menschen beherbergt Indien heute mehr als doppelt so viele Einwohner wie die ganze EU. Es ist ethnisch, kulturell und religiös ungleich heterogener und widersprüchlicher. Mancherorts gibt es matriarchalisch geprägte Gesellschaften, anderswo erzchauvinistische. Es wäre daher falsch, Indien zu verteufeln, zumal der Westen wenig Grund hat, sich selbstgefällig zurückzulehnen, wie der Steubenville-Fall in den USA zeigt, bei dem Studenten eine bewusstlose junge Frau von Party zu Party schleppten und vergewaltigten.

Indien hatte schon 1966 eine Regierungschefin

In vielem ist Indien, wie manches andere asiatische Land, dem Westen voraus. Bereits 1966 wurde eine Frau an die Spitze der Regierung gewählt. Indira Gandhi regierte das Riesenland mit eiserner Hand. Auch heute ist eine Frau die wahre Regentin hinter Premierminister Manmohan Singh: Indiras Schwiegertochter Sonia Gandhi, die die Kongresspartei führt. Frauen arbeiten als Ärztinnen, Anwältinnen, Pilotinnen, führen Ministerien und Bundesstaaten. Den wichtigsten Botschafterposten der Welt, den in den USA, hat Indien mit einer Frau besetzt. Pakistan übrigens auch. Inder beten zu Göttinnen wie der mächtigen Durga. Es heißt „Mutter Indien“, nicht Vaterland. Die Hindu-Mythologie ist voller Sagen über Könige, die Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihre Angebetete aus Gefahr zu retten.

Aber es gibt auch eine andere Realität. Abermillionen Inderinnen leben wie Sklavinnen. Teile der Gesellschaft sind einem Frauenbild verhaftet, das ähnlich anachronistisch ist wie das in Afghanistan. Der Westen irrt daher, wenn er Gewalt gegen Frauen vor allem als Problem islamischer Gesellschaften verortet. Es ist ein kulturelles Problem. Nirgends lässt sich dies besser beobachten als in Südasien. Vergewaltigungen, Ehrenmorde, Säureattacken, Zwangs- und Kinderehen sind in allen Religionen verbreitet: bei Hindus, Muslimen, Sikhs und Christen.

Mädchen gelten als Bürde der Eltern

Vor allem im Hindu-Gürtel im Norden gilt Gewalt gegen Frauen als endemisch. Das Weib sei dem Manne untertan, wurde ein Satz in der Bibel einst übersetzt. Ähnlich schreibt der Hindu-Wertekatalog „Manusmriti“ die Unterordnung der Frau fest, die als schwach und lüstern charakterisiert wird. Es sei die „Natur von Frauen, Männer zu verführen“, heißt es dort. „Mädchen sollen unter der Vormundschaft des Vaters stehen, wenn sie Kinder sind, Frauen unter der Vormundschaft ihrer Ehemänner, wenn sie verheiratet sind, und unter der Vormundschaft ihrer Söhne, wenn sie Witwen sind. Unter keinen Umständen ist es ihnen erlaubt, sich eigenständig zu behaupten.“ Der Mann ist alles, die Frau zählt nichts. So auch beim Geld. Mädchen gelten als Bürde, weil die Eltern später hohe Mitgiftsummen zahlen müssen, um die „Wertlosigkeit“ der Braut aufzuwiegen. Viele Eltern müssen sich tief verschulden. In den Kreisen der Superreichen bedenken die Brauteltern den Bräutigam schon mal mit einem Helikopter. Nach der Heirat gehören das Mädchen und ihre Arbeitskraft der Familie des Mannes. „Ein Mädchen großzuziehen ist, wie den Garten des Nachbarn zu bewässern“, heißt ein geflügeltes Wort.

Nach Schätzungen der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ werden deshalb jedes Jahr 500 000 Mädchen abgetrieben oder getötet. Als Folge herrscht in vielen Regionen ein dramatischer Männerüberschuss. Indienweit kommen auf 1000 Männer 980 Frauen. Dabei sinken die Zahlen oft in den wohlhabenden Regionen, auch in der Mittelschicht. So weist das vergleichsweise reiche Delhi nur noch 821 Frauen auf 1000 Männer aus.

Aus verhätschelten Buben werden gewalttätige Männer

Von kleinauf wird Frauen eingebläut, dass es ihre Pflicht ist, sich für den Mann zu opfern – wie Sita, die Heldin aus dem Hindu-Epos „Ramayana“, die bis heute als weibliches Rollenmodell idealisiert wird. Das geht so weit, dass mancherorts Frauen gezwungen werden, ihrem Mann in den Tod zu folgen, wenn er stirbt. Sati wird das grausame Ritual der Witwenverbrennung genannt. Andernorts werden Witwen davongejagt und zu einem Leben in Armut und Einsamkeit verdammt.

Auf Anerkennung können Frauen nur hoffen, wenn sie einen Stammhalter gebären. Söhne werden vergöttert und verhätschelt. Das gilt in patriarchalisch geprägten Regionen in allen Schichten. In den Nobelvierteln Delhis sieht man auffällig viele Mütter mit nur einem Kind, einem Sohn natürlich. Das Ergebnis: Männer, die Frauen als Dienerinnen, Eigentum und Freiwild sehen – und das Wort Nein nicht kennen. Die es lieben, Macht auszuüben.

Gruppenvergewaltigung als Waffe im Geschlechterkampf

Vergewaltigung, vor allem Gruppenvergewaltigung, ist eine Waffe, um die männliche Machtposition zu sichern und Frauen kollektiv einzuschüchtern, meinen Frauenrechtlerinnen. „Es ist ein Weg zu sagen: Ich bin dir überlegen“, sagt der Anwalt Tridip Pais. Seine Kollegin Madhu Mehra nennt Vergewaltigungen „Terrorismus gegen Frauen“. Allerdings sind Vergewaltigungen nur der Schlusspunkt einer allgegenwärtigen Praxis sexueller Bedrohung und Belästigung. Die Stadt, der öffentliche Raum gehört den Männern. Und das demonstrieren sie allenthalben. Ob auf der Straße oder im Bus – Frauen werden begrapscht, verfolgt und müssen sich anzügliche Bemerkungen anhören. „Eve teasing“, Eva necken, wird dies verharmlosend genannt. Viele Frauen trauen sich nach Einbruch der Dunkelheit nicht auf die Straße.

Doch vor allem in den Städten wächst auch eine neue Frauengeneration heran, die aus den alten Rollenzwängen ausbricht. Frauen gehen arbeiten, gehen auf Partys, tragen körperbetonte Kleider, haben Sex vor der Ehe, trinken und rauchen. Und verstoßen damit gegen alle Regeln. Das provoziert viele Männer, weil es an ihrer überlieferten Machtposition rüttelt. Viele reagieren aggressiv.

Wenn Frauen selbst zu Täterinnen werden

Indien hat kein Frauenproblem. Es hat ein Männerproblem. So verrutscht ist das Wertesystem, dass viele Täter auch noch dem Opfer die Schuld dafür・ geben, dass sie es vergewaltigen. Dies suggeriert ihnen auch die Gesellschaft, die Polizei, die Justiz, der Staat: Meist decken sie die Vergewaltiger und stigmatisieren die Opfer. Die Täter wissen, dass sie davonkommen. Und das ermutige sie, sagt Subhasini Ali von der Frauenvereinigung AIDWA.

Das patriarchalische System eröffnet vielen Frauen nur einen Ausweg, der Opferrolle zu entfliehen: selbst zu Täterinnen zu werden. Oft sind es die Schwiegermütter, die die Schwiegertöchter besonders brutal malträtieren oder gar das Streichholz anzünden, wenn man die Schwiegertochter verbrennt, weil die Mitgift nicht gereicht hat. Jede Stunde stirbt in Indien eine Frau wegen der Mitgift.

Ungeduldig fragt der Westen, wann sich das alles ändert. Dabei hat es auch im Westen Jahrhunderte gedauert, bis sich etwas bewegte. Bis in die Neuzeit wurden Frauen als „Hexen“ verbrannt, erst seit 1919 dürfen Frauen in Deutschland wählen. Bis 1977 mussten sie ihren Ehemann um Erlaubnis fragen, wenn sie arbeiten wollten. Noch heute sind Frauen in Führungsetagen die Ausnahme.

Mittelalter und Moderne prallen aufeinander

Patentrezepte fehlen, auch in Indien. Indiens Gesellschaft ist tief gespalten, Mittelalter und Moderne prallen – nicht nur, aber besonders in den überfüllten Städten – brutal aufeinander. Davon zeugt auch die leidenschaftliche Debatte über Lösungen. Ein Komitee erhielt nun sage und schreibe 80 000 Vorschläge, was man gegen Gewalt gegen Frauen tun könne. Die einen setzen auf gesellschaftliches Umdenken, sozialen Wandel, ein neues Frauen- und Männerbild sowie Reformen von Polizei und Justiz. Die anderen wollen die Uhr zurückdrehen und Frauen wieder stärker unter die Kontrolle des Mannes zwingen. Einige Dorfräte schlugen vor, das Heiratsalter von Mädchen zu senken, um Vergewaltigungen einzudämmen.

Zweischneidiger Einfluss des Westens

Viele glauben auch, dass der Einfluss des Westens, der mit der Öffnung des Marktes nach Indien schwappt, eine zweischneidige Rolle spielt. „Das westliche Konzept, dass Frauen Menschen aus eigenem Recht sind, dringt auch in Indien ein. Aber es kollidiert mit traditionellen Ideen, wann in Indien eine Frau als Mensch betrachtet wird“, so der Psychoanalytiker Kakar. Leichter passe sich dagegen die Idee ein, dass der weibliche Körper ein „Amüsierpark“ sei, wie es die westliche Konsumkultur in Werbung, Filmen und Medien vermittele – und wie es auch Indiens Medien plump imitierten, meint Kakar. Die Folge: das „Zum-Objekt-Machen“ von Frauen gelte bei Männern nicht als rückständig, sondern als modern.

Der tiefe Konflikt, der erbitterte Widerstreit in Indiens Gesellschaft spiegelt sich auch in dem neuen Antivergewaltigungsgesetz wider, das das Parlament nun verabschiedet hat. Es verschärft die Strafen für Vergewaltigungen und stellt erstmals auch Stalking und „Eve teasing“ unter Strafe.

Was wird das neue Gesetz bringen?

Wichtiger ist eine andere Neuerung: Polizisten, die sich weigern, eine Vergewaltigungsanzeige aufzunehmen, droht künftig ebenfalls eine Strafe. Die Komplizenschaft der Polizei ist ein Riesenproblem. Bislang scheitert eine Verfolgung von Vergewaltigern oft daran, dass Polizisten die Opfer einfach davonjagen und bisweilen sogar nochmals vergewaltigen.

Ob das Gesetz wirklich eine Wende einleitet, muss man abwarten. Zumal es in anderen Punkten den reaktionären Kräften in die Karten spielt, die Frauen nur als Besitz und Verfügungsmasse ihres Vaters oder Ehemannes sehen. So steht Vergewaltigung in der Ehe nur dann unter Strafe, wenn die Ehefrau 14 Jahre oder jünger ist.   Unverheirateten Liebespaaren unter 18 Jahren droht dagegen ein Jugendarrest von bis zu drei Jahren, wenn sie einvernehmlich Sex haben.

Frauenrechtlerinnen sehen das Gesetz daher mit gemischten Gefühlen. Sie halten es für einen ersten wichtigen Schritt, aber noch lange nicht für den Durchbruch.

Übergriffe auf Frauen – Hintergründe und Zahlen

Am 16. Dezember 2012 vergewaltigen sechs Männer eine 23 Jahre alte Studentin in einem Bus in Neu-Delhi. Die Frau stirbt am 29. Dezember an ihren schweren Verletzungen. Teils gewaltsame Proteste sind die Folge. Am 21. Januar 2013 stehen die des Mordes Angeklagten erstmals vor dem eigens eingerichteten Schnellgericht. 90 Zeugen sollen gehört werden. Am 11. März wird der mutmaßliche Haupttäter erhängt in seiner Zelle gefunden.

Am 15. März wird eine 39-jährige Schweizer Urlauberin im Bundesstaat Madhya Pradesh von mehreren Männern vergewaltigt, sie und ihr Begleiter werden ausgeraubt. Die Verhandlung gegen sechs Angeklagte beginnt am 30. März. Ebenfalls Mitte März springt eine britische Touristin in Agra aus Angst vor einem sexuellen Übergriff aus dem Fenster ihres Hotels. Eine Umfrage bei 1200 Reiseveranstaltern ergibt, dass 25 Prozent weniger Touristen nach Indien kamen, bei den weiblichen Besuchern beträgt der Rückgang 35 Prozent.

Die Zahl der Vergewaltigungen in Indien hat sich in den vergangenen 40 Jahren fast verzehnfacht. Wurden 1972 zu Beginn der Erhebung knapp 2500 Fälle registriert, zählte die jüngsten Statistik aus dem Jahr 2010 mehr als 22 000 Vergewaltigungen.