Die Gewerkschaft ist aus ihrer 125-jährigen wechselvollen Geschichte gestärkt hervorgegangen. Doch ihre Handlungsfähigkeit ist gefährdet, wenn sie sich politisch nicht stärker einmische, heißt es warnend in der Wissenschaft. Am Samstag wird in Frankfurt erst einmal gefeiert.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Auf Inszenierungen versteht sich die IG Metall – am Werkstor wie im Festsaal: In einem Symbolbau deutscher Demokratie, der Frankfurter Paulskirche, begeht sie an diesem Samstag ihr 125-jähriges Bestehen. Vom 1. bis 6. Juni 1891 war in Frankfurt der Deutsche Metallarbeiter-Verband ins Leben gerufen worden. Wie es sich für diese Gewerkschaft gehört, sind nicht nur die Regierung (durch Vizekanzler Sigmar Gabriel, SPD) und der Bundestag (durch dessen Präsidenten Norbert Lammert, CDU), sondern auch der Sozialpartner (mit Gesamtmetall-Präsident Rainer Dulger) hochkarätig vertreten.

 

Die IG Metall ist nicht nur wegen ihrer 2,27 Millionen Mitglieder klar die Nummer eins der deutschen Gewerkschaften. „Mit den Hochburgen des Exportsektors hat sie Bastionen tariflicher Regelungen“, sagt der Soziologe Klaus Dörre von der Universität Jena, der gerade ein Buch über die „Streikrepublik Deutschland“ fertigstellt. Zudem habe sie im Unterschied zu anderen Gewerkschaften schnell gelernt, neue Formen der Mitgliedergewinnung zu erproben und dabei beträchtliche Erfolge zu erzielen.

Neue Chancen bei den jungen Beschäftigten im Osten

Der Vorteil ist zugleich ein Nachteil, weil sich die IG Metall allzu sehr auf ihre starke Stellung in der Großindustrie verlässt. Die Belegschaften der Automobilhersteller sind seit jeher ihre Kampftruppen, ohne die eine Streikwelle undenkbar scheint. Dort werden neben den Monatslöhnen auch beachtliche Boni gezahlt, während die Beschäftigten der Zulieferer das Nachsehen haben. Auch innerhalb der Belegschaften haben sich Mehrklassengesellschaften vom Stammmitarbeiter zum prekär Beschäftigten gebildet. Um Leipzig herum gebe es „sechs Gruppen, die die gleiche Arbeit machen, aber unterschiedlich entlohnt werden“, schildert Dörre. Die IG Metall konnte es nicht verhindern.

Wie mühsam es ist, kleine und mittlere Betriebe in den Tarifvertrag zu zwingen, hat die jüngste Tarifrunde gezeigt: In bundesweit mehr als 200 Firmen hat die IG Metall mit Aktionen Druck gemacht – in 40 Betrieben wurde bisher eine Tarifbindung für insgesamt 10 000 Beschäftigte errungen. In Baden-Württemberg gelang dies nach Aktionen in 65 Firmen in 14 Fällen.

Nur noch Funktionäre denken an den Kampf um 35-Stunden-Woche

Im Osten habe es die IG Metall verstanden, ihre Organisationsnetze rund um die Industriekerne – etwa Leipzig oder Zwickau – auszubauen, sagt der Gewerkschaftsforscher. Ohnehin hat aus seiner Nahsicht in den neuen Ländern ein Wandel eingesetzt: Vom verlorenen Arbeitskampf um die 35-Stunden-Woche vor 13 Jahren reden heute nur noch die Funktionäre. „Die jungen Leute in den Betrieben wissen darüber nichts mehr.“ Dörre hat bei ihnen vielmehr ein „Ende der Bescheidenheit“ festgestellt. Wer gut qualifiziert sei, wolle nicht mehr ständig zurückstecken, nur um seinen Arbeitsplatz zu sichern. Folglich kann die IG Metall gerade bei den jungen Mitgliedern Boden gut machen. „Für den Osten ist sie eine organisierende Kraft und hat ein strategisches Potenzial“, resümiert er.

Als „einen der wundesten Punkte“ hingegen hat er die geringe internationale Ausrichtung ausgemacht. „De facto können Gewerkschaften global aufgestellte Unternehmen künftig nur noch unter Druck setzen, wenn sie entlang der Wertschöpfungskette organisieren.“ Und es bräuchte mehr Einflussnahme auf die europäische Politik. Aus der EU heraus gebe es einen „enormen Druck zur Deregulierung und weiteren Flexibilisierung des Arbeitsmarktes“ – zudem lasse die EU-Kommission das Ziel erkennen, dass Verhandlungen weiter in die Unternehmen verlagert werden sollen. Dies verstärke den Druck in den Exportbranchen. „Wenn man dem nichts entgegensetzen kann, wird das deutsche Modell auf Dauer nicht überleben können“, fürchtet der Jenaer Soziologe. „Dann werden wir eine weitere Balkanisierung der Tariflandschaft auch im Bereich der IG Metall bekommen.“ Es werde immer schwerer, Flächentarifregelungen durchzusetzen und Großunternehmen als Leuchttürme darzustellen. In Baden-Württemberg mag es noch gut aussehen – aber im Osten sei die Realität eine andere.

Auf internationaler Bühne zeigt die Gewerkschaft Schwächen

Ohne politische Mitwirkung kann die IG Metall da wenig ausrichten. Dörre hat jedoch den Eindruck, dass die neue Führung um Jörg Hofmann und Christiane Benner „sich da ziemlich zurückhält“ – von Kooperationsprojekten wie der Industrie 4.0 abgesehen, wo man die politische Agenda zu gestalten versuche. „Potenzielle Konflikte mit der Regierung betrachtet sie eher nicht als ihr Ding.“ Dahinter stecke die Haltung: „Wir machen unsere Hausaufgaben und kümmern uns um Betriebe, betreiben ein bisschen Industriepolitik – halten uns aus den großen Fragen aber heraus.“ Dies werde zwar nicht offen gesagt, sei aber praktisch so – ein „strategischer Mangel“. Abgesehen von engen Beziehungen zu Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) habe die IG Metall ihre Äquidistanz zu den politischen Parteien verstetigt. Intern sei es durchaus umstritten, „inwieweit man sich das politische Mandat zutraut“.