Die Informationstechnologie gibt Wirtschaft und Gesellschaft das Tempo vor, das soll ein Innovationsfestival in Stuttgart diese Woche demonstrieren. Doch was bedeutet das für die Unternehmenskultur? Ein Gespräch mit Marika Lulay, Chefin des Stuttgarter IT-Dienstleisters GFT.

Stadtentwicklung & Infrastruktur: Andreas Geldner (age)

Stuttgart - Innovation ist mehr als nur Technologie. Dies will eine Großveranstaltung in dieser Woche in Stuttgart demonstrieren, die sich bewusst nicht als Messe deklariert, sondern als „new New Festival“. Organisiert wird sie von der Innovations-Plattform Code_n. An deren Anfang stand vor nunmehr sieben Jahren der Gründer und langjährige Chef des Stuttgarter IT-Dienstleisters GFT, Ulrich Dietz. Doch was soll ein solches Event erreichen, das unter der für Nicht-Technologen etwas sperrigen Überschrift „Intelligence X.0“ steht? Marika Lulay, seit 2017 Nachfolgerin von Dietz, beschreibt wie der rasante technologische Fortschritt die Gesellschaft umkrempelt und welchen Balanceakt es heute bedeutet, Unternehmen so zu führen, dass sie einerseits beweglich und innovativ werden, andererseits nicht das Bestehende gefährden.

 

5000 Mitarbeiter lassen sich nicht wie in einem Start-up führen

Sie selbst vollführt diesen Balanceakt in einer Firma, die auf 5000 Mitarbeiter in Europa, Nord- und Südamerika gewachsen ist und die sich etwa der Künstlichen Intelligenz und der Blockchain vor allem im Finanzbereich widmet. Vorstellungen, dass die ganze deutsche Wirtschaft nach dem Muster der Gründer im Silicon Valley funktionieren könne, sind ihr fremd: „Wenn mir Start-ups etwas von ihren flachen Hierarchien erzählen, dann sag ich: Herrgott, bei sechzig Mitarbeitern habt ihr leicht reden.“

In Zukunft werde etwa das mittlere Management beileibe nicht überflüssig, wie von manchen Innovations-Gurus propagiert: „Jedes Unternehmen einer bestimmten Größe hat eine enorme Komplexität. Oben die Vision – unten flexible Teams, die sie umsetzen? Und dazwischen nichts? Da sind sie vielleicht schnell, aber auch unglaublich ineffizient“, sagt Lulay. Ein Firmenchef müsse heute mit aufgeklärten Managern und Mitarbeitern umgehen: „Wir haben als IT-Firma damit schon immer zu tun, weil IT-Leute sehr freiheitsliebend sind. Man muss aber trotzdem die Richtung vorgeben. Da müssen sie klar machen, wann eine Ansage eine Ansage ist und wann es Spielraum gibt.“

Scheitern nicht verklären

Denn mit dem Risiko spielen wie ein Start-up, könne ein Chef mit der Verantwortung für tausende von Menschen nicht: „Es ist naiv zu glauben, dass Scheitern per se positiv ist. Das ist nur dann der Fall, wenn man sehr genau anschaut, was man daraus lernen kann.“ Lulay weiß, wovon sie redet. Sie hat kurz nach ihrem Amtsantritt im vergangenen Jahr gleich harten Gegenwind aushalten müssen, als zwei Großkunden einen Sparkurs verkündeten und der Aktienkurs einbrach. „Ich verteidige durchaus die traditionelle Unternehmensstruktur: Es ist immer die Mischung von Beibehalten und Verändern, die einen gesunden Wandel möglich macht.“

Die IT wird immer schneller als die Gesellschaft sein

Es müsse noch viel mehr geschehen, um die Gesellschaft insgesamt für das Innovationstempo zu wappnen. Dieser Versuch werde jetzt mit dem Stuttgarter Festival gewagt, wo neben der Technologie auch Kunst und Musik ihren Platz hätten: „Wir wollen die Sollbruchstelle zwischen Technologie und der Gesellschaft überwinden.“ Technikverliebte versus Bedenkenträger, das könne es nicht sein, sagt sie. „Bei der Geschwindigkeit mit der die IT vorangeht, kann keine Regierung der Welt, kein Ordnungsrahmen, kein Rechtssystem vorbeugend mithalten. Das geht nur reaktiv – aber die Werte, an denen man sich orientiert, muss man vorher definieren.“ Die für oftschwindelerregende Geschwindigkeit sei ein Gesetz der IT-Branche, sagt Lulay. „Das liegt daran, dass man in dieser Technologie neue Dinge erlebt, die man vorher gar nicht kannte. Wenn Sie ein Auto bauen, haben sie ein wiederholbares Ergebnis. In der IT beginnen sie mit einer Idee – und beim Umsetzen stellen sie fest, es geht noch viel besser und schneller.“ Und diese Branche präge nun Wirtschaft und Gesellschaft.

Ein Tempolimit könne es nicht geben – auch wenn dies manchmal die Gesellschaft zu überfordern scheine. „Hektik im Unternehmen bei geistiger Windstille bringt es aber nicht. Weil alle von Tempo reden, machen alle Tempo. Der Mensch fühlt sich dann überfordert. Und was geschieht am Ende? Stillstand.“

Das Innovationstempo schafft Raum für Quereinsteiger

Doch das Innovationstempo habe auch Vorteile: „Heute ist meiner Meinung nach die IT ein guter Beruf für Frauen, die wegen ihrer Kinder mal aussetzen. Gerade weil sich die Dinge so schnell weiterbewegen, kann man immer wieder neu einsteigen. Die IT kann Quereinsteiger verkraften wie keine andere Industrie.“ Das gelte auch für Firmen: Wer eine Entwicklungsstufe verpasst habe, könne bei der nächsten ganz vorne wieder dabei sein. Durch Einsatz von Künstlicher Intelligenz könnten auch weniger qualifizierte Arbeitnehmer komplexere Tätigkeiten ausführen. Ob man mithalten könne sei eine Mentalitätsfrage, keine des Geschlechts, des Lebensalters oder der Ausbildung: „Überfordert ist nur derjenige, der alles beibehalten will.“

Lulay sieht den Heldenkult der bisher fast immer männlichen IT-Stars an Grenzen stoßen: „Man kann vielleicht sogar sagen, dass sich eine Form der eher ,weiblichen‘ Führung etabliert. Mir hat mal einer gesagt, wenn du Chef sein willst, musst du ein Rockstar sein. Ich glaube das nicht mehr. Das Benehmen des Tesla-Gründers Elon Musk wirkt doch wie aus der Zeit gefallen. Macho ist out.“