In der 70er und 80er Jahren spielte Peter Wiedhölzl vor zigtausenden Menschen. Heute lebt der Musiker in einer Nürtinger Behindertenwohngruppe.

Nürtingen - Es ist der 8. November 2000. Peter Wiedhölzl, 52, macht Aktivurlaub auf den Seychellen. Seit mehr als drei Jahrzehnten taucht er; Wiedhölzl weiß um die Gefahren, die unter Wasser lauern. Trotzdem bricht er eine der wichtigsten Regeln: Tauche niemals alleine! Wiedhölzl genießt an diesem schicksalhaften Tag die faszinierende Welt der Korallenriffe mit ihrer bunten Artenvielfalt – bis zur Katastrophe: Der Druckminderer am Atemgerät, der den Flaschendruck auf den vorgesehenen Wert herunterregelt, fällt aus.

 

Hätte Wiedhölzl einen Partner an seiner Seite, könnten sie dessen Gerät im Wechsel benutzen, um langsam und sicher an die Oberfläche zu gelangen. Doch außer Fischen ist weit und breit niemand. Wiedhölzl erfasst Panik, der technische Defekt zwingt ihn aus 40 Meter Tiefe zu einem Notaufstieg. Der notwendige Druckausgleich bleibt aus, ein Blutgefäß im Gehirn platzt. Wiedhölzl treibt bewusstlos an der Wasseroberfläche. Er wird gerettet und in eine Klinik nach Deutschland geflogen. Sechs Tage liegt er im Koma. Als er erwacht, ist alles anders.

Nürtingen, elfeinhalb Jahre später: Peter Wiedhölzl sitzt im Rollstuhl, er ist halbseitig gelähmt, aber in der Lage, den Besuchern von der Zeitung seine Lebensgeschichte zu erzählen. Für das Foto posiert er mit seiner E-Gitarre. Er kann sie zwar halten, nicht aber die Saiten greifen.

Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll

Wiedhölzl blickt auf seine Musikerkarriere zurück. Sechs Semester hat er Klavier an einer Hochschule studiert, um dann doch lieber Rockstar zu werden. In den 70er und 80er Jahren ist er ununterbrochen auf der Überholspur, spielt unter anderem Gitarre bei der Band Supermax, die mit ihrem Funk-Rock-Cross-over-Hit „Lovemachine“ weltweit die Massen in Discos und Konzerthallen zum Ausflippen bringt. Der gebürtige Wiener Wiedhölzl ist ein cooler Kerl, er lässt nichts anbrennen. Drogen, schöne Frauen und schwere Motorräder bestimmen zusammen mit der Musik seinen Alltag. Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll – Peter Wiedhölzl verkörpert ein Klischee.

Mit Mitte vierzig nimmt er das Gas zurück und tritt nur noch hobbymäßig mit der Stuttgarter Heavyband Araya auf. „Ich finde es lächerlich, wenn alte Männer als Rockmusiker auf der Bühne stehen“, sagt der heute 63-Jährige. „Mick Jagger sieht doch aus wie eine Mumie.“

Wiedhölzl wählt Ende der 80er Jahre einen anderen Weg: eine moderat bürgerliche Existenz. Aus dem Berufsmusiker wird der Filialleiter einer Pharmafirma. In Ostfildern lebt er mit seiner dritten Ehefrau und den beiden gemeinsamen Töchtern. Adrenalinkicks holt er sich an den Wochenenden, wenn er mit der Harley-Davidson über die Landstraßen röhrt und in seinen Tauchurlauben. Bis der Unfall seinen Freiheitsdrang ein für alle Mal bremst.

„Ich bereue keine Sekunde“

Seit zwei Jahren lebt der Rentner Peter Wiedhölzl jetzt in der Nürtinger Behindertenwohngruppe Heinrichshöhe. Er komme dort zurecht, sagt er. Wenn man ihn auf einem seiner regelmäßigen Einkaufsbummel begleitet, muss man sich bemühen, Schritt zu halten. Der elektrische Rollstuhl, an den Wiedhölzl gefesselt ist, hat wie einst sein Feuerstuhl fünf Gänge und schafft immerhin eine Höchstgeschwindigkeit von sieben Kilometern pro Stunde. Den AOK-Chopper hat er mit einem Harley-Aufkleber verziert sowie einem Kennzeichen mit der Botschaft: Explosiv.

Die Topografie der Nürtinger Altstadt und die Architektur vieler Gebäude nehmen auf Peter Wiedhölzls Behinderung keine Rücksicht. Gerne würde er stärker am kulturellen Leben der Stadt teilhaben. Doch der Treppenaufgang am Hölderlinhaus lässt beispielsweise nicht zu, dass er die Kurse und Vorträge an der Volkshochschule besuchen kann.

An diesem Nachmittag ist das Kaufland an der Europastraße sein Ziel. Der Aufzug des Supermarktes ist breit, der Rollstuhlfahrer kann mit seinem Gefährt darin bequem manövrieren. Auch die Gänge zwischen den Regalreihen sind so großzügig angelegt, dass Wiedhölzl ganz gut alleine klarkommt. Nur wenn etwas weit oben steht, muss er um Hilfe bitten. Die Wurstspezialität „Salzburger Scherzl“, Piccolo-Sektflaschen und Eier landen im Einkaufswagen. Für die Mitglieder der Wohngemeinschaft wird zwar gekocht, wer will, kann den Speiseplan aber nach eigenem Gusto ergänzen. Wiedhölzl will.

Der trockene Wiener Humor ist im geblieben

Auf dem Weg zum Shrimpssalat liegt linker Hand im Regal der „Universal Wassersportanzug“ der Marke Delphin für 29,99 Euro. Im Fach darunter der dazu passende Schnorchel für 5,99 Euro. Wiedhölzl ignoriert die Tauchutensilien, die ihn an seinen Unfall erinnern würden. Immer nur zurückblicken, das will er nicht. Wird er mit der Vergangenheit konfrontiert, dann spricht er Sätze wie diesen: „Ich bereue keine Sekunde. Ich würde nichts anders machen – außer meine Brille bei Fielmann kaufen.“ Wiedhölzl hat viel verloren, seinen trockenen Wiener Humor aber nicht.

Der ehemalige Sänger und Gitarrist ist ein Rocker geblieben. „Born to be wild“, steht auf seinem T-Shirt, und auf seinem linken Unterarm ist sein Spitzname Buddy tätowiert. Ein Augenpiercing und auffällige Ohrringe sind in seiner Jugend ein Ausdruck von Rebellion gewesen – bevor sie zum modischen Accessoire mutierten. Buddy hat sich von den Symbolen des Nonkonformismus nie verabschiedet.

Ab und zu, wenn im Kuckucksei ein Konzert ist, rollt er die hundert Meter zu dem Nürtinger Club. Alleine schafft er es nicht hinein, doch vier kräftige Männer, die den 80 Kilogramm schweren Rentner in seinem 105 Kilogramm schweren Gefährt die Treppe hoch über die Schwelle hieven, finden sich immer. Früher jubelte das Publikum Wiedhölzl zu, jetzt schaut er von unten auf die Bühne. Verkehrte Welt.

Unvergessliche Erlebnisse

Wie war das in den 80ern, als er mit Supermax tourte? „Wir haben beim Sunsplash-Festival auf Jamaika gespielt vor 40 000 Menschen. Ein unvergessliches Erlebnis.“ Sein Gesicht drückt eine Mischung aus Freude,         Rührung und Schmerz aus bei der Erinnerung an Reggaerhythmen, tanzende Rastafari und unbeschwerte Tage an traumhaften Sandstränden.

Supermax, ein Projekt des Wieners Kurt Hauenstein, war 1983 die bis dato einzige Band mit weißen Musikern, die zu Sunsplash-Ehren kam. Zuvor tourte Supermax als erste weiße Rockgruppe mit zwei farbigen Backgroundsängerinnen durch Südafrika, ohne den damals vom Apartheid-Regime vorgeschriebenen Trennvorhang zwischen weißen und schwarzen Musikern.

Im Jahr 2008 bekommt Hauenstein für sein Lebenswerk den Amadeus Austrian Music Award verliehen, den größten österreichischen Musikpreis im Bereich der Popmusik. Im März 2011 stirbt er an Herzversagen. Mitglieder der Hells Angels tragen ihn zu Grabe. Seine letzte Ruhe findet er auf dem Zentralfriedhof, direkt neben dem Grab von Falco.

Fünf Kinder mit drei Frauen

Peter Wiedhölzl wurde nie offiziell geehrt. An seiner Wand hängt das Plakat vom Benefizkonzert, das im September 2001 in Stuttgart mehrere Bands für ihren verunfallten Buddy gegeben haben. „Es ist mir eine Ehre, lieber Peter“, steht darauf mit schwarzem Edding geschrieben. Früher hat er seine alten Bandkumpel noch öfters getroffen. Doch die Berührungspunkte sind weniger geworden. Heute sieht er sie ein-, zweimal im Jahr.

Es klingelt. Michelle kommt zu Besuch, eines von fünf Kindern, die Wiedhölzl mit drei Frauen gezeugt hat. Die Achtklässlerin drückt ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Eine seiner Exfrauen wohnt in Griechenland, ebenso eine der Töchter. Sein Sohn Alex ist Sänger einer Metalband. Eines der Kinder starb bereits als Baby.

Zur Zerstreuung spielt Wiedhölzl gerne „Cityville“, ein Computerspiel im Internet, bei dem Städte aufgebaut und verwaltet werden. Eine Etage über seiner WG wohnt der Nürtinger Oberbürgermeister Otmar Heirich. Er ist nicht im Cityville-Netzwerk, sondern macht sich seine eigenen Gedanken über die Verwaltung seiner Stadt.

Einsamkeit ist sein Begleiter

Im Laufe der Jahre ist es einsamer geworden um Peter Wiedhölzl. Gerne fährt er mit dem Behinderten-Transporter nach Reutlingen, wo er ein paar Freunde hat. Sein Geist ist wach, aber als Folge des Schlaganfalls sind seine Worte schwer zu verstehen. Menschen, denen er in Nürtingen auf der Straße begegnet, haben häufig Berührungsängste, weil sie nicht wissen, wie sie mit dem schrägen Typen im Rollstuhl umgehen sollen.

Seine derzeit vier WG-Mitbewohnerinnen hat sich Wiedhölzl nicht aussuchen können. Es verbindet ihn wenig mit ihnen. Der Träger der Einrichtung erklärt, Ziel sei, „dass nichtbehinderte Menschen die Scheu verlieren und die Begegnung mit den Bewohnern der Heinrichshöhe suchen“. Inklusion gemäß der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen – das klinge gut, die Realität hingegen sehe meist anders aus, sagt Wiedhölzl.

„Vorsicht, er könnte schlechte Laune haben“, steht auf dem Schild an seiner Zimmertür. Drinnen an der Wand hängt ein Harley-Davidson-Jahreskalender. Von seinem Motorrad gibt es keine Fotos mehr, sie wurden in einem Moment brutaler Leidenschaft zerstört. „Du hast doch deine Bikes mehr lieb als mich“, meinte eines Tages seine dritte Ehefrau. „Ich war so blöd zu sagen: Ja.‘“ Ein ganzer Stapel Motorradfotos ging daraufhin in Flammen auf.

Die schlimmsten Zeiten sind vorbei

Im Nürtinger Kaufland verkündet ein Plakat: Sieben Millionen Euro sind an diesem Mittwoch im Lotto-Jackpot. „Ich würde mir mit dem Geld ein Haus mit ebenem Eingang kaufen und eine Betreuerin anstellen.“ Doch Peter Wiedhölzl glaubt nicht mehr daran, dass sich in seinem Leben noch einmal etwas ändert. „Was ich machen kann, mache ich“, sagt er. Mal gehe es ihm besser, mal schlechter.

Die schlechten Tage sind seltener geworden. „Man gewöhnt sich an alles.“ Wiedhölzl macht eine Pause, dann fügt er hinzu: „Mir fehlt die Musik und das ganze Drumherum, aber am allerliebsten würde ich wieder einmal auf einer Harley fahren.“