Die Welt ist nicht genug: Virtual Reality soll nun auch Achterbahnen wahrhaft abgefahren machen. Das erinnert Peter Glaser an Balanceakte auf der Teppichkante.
Stuttgart - Wir hatten ein Kinderspiel, bei dem man durch ein Fernglas verkehrt herum auf einen Teppichrand vor sich auf dem Boden schaut. Alles ist dann ganz klein und weit weg, und es sieht so aus, als habe man zehn Meter hohe Beine. Geradeaus den Teppichrand entlangzugehen ist wie Seiltanzen für Anfänger, man taumelt und torkelt. Ohne das umgedrehte Fernglas könnte man Teppichränder bis zum Horizont entlanglaufen, aber das wäre viel zu einfach. Es wäre nicht innovativ.
Erst die neue, zusätzliche Schwierigkeit macht das ganze interessant. Dieses Prinzip findet sich wieder in moderner Technologie. Hightech ist nicht etwa dazu da, das Leben einfacher zu machen, sondern auf interessante Weise schwieriger oder umständlicher. Früher etwa konnte man mit einem Telefon telefonieren. Inzwischen haben sich Computer eingemischt und die Menschen telefonieren mit ihren Telefonen fast nicht mehr, stattdessen lassen sie sich in die Unendlichkeit digitaler Spielereien verlocken, die sich nun in den ehemaligen Telefonen breitgemacht hat.
Der letzte Schrei heißt Virtual Reality, kurz VR. Sie wissen schon, dabei geht es um die Leute mit diesen albernen Computertaucherbrillen. Ich muss dabei immer an den Film „Alien“ denken, in dem jemandem ein außerirdisches Lebewesen ins Gesicht hüpft und sich dort festsetzt. Mark Zuckerberg sagt, das ist die Zukunft. Muss er auch, denn er hat 2014 für mehr als zwei Milliarden Dollar die Firma Oculus Rift gekauft, die genau solche Brillen herstellt. Milliarden Menschen sollen nun also umgedrehte Ferngläser wollen, die man sich umbindet, und durch sie hindurchsehen in die Untiefen der virtuellen Realität und lernen, trotzdem auf dem Teppich zu bleiben.
Man kann es natürlich mit der Medienbegeisterung auch übertreiben. Man kann ein Medium missverstehen wie der Künstler André Heller, der einst in Lissabon ein riesiges Feuerwerk inszenierte – fürs Fernsehen, wo es auf Bierkistengröße einschrumpfte und als zweidimensionaler Blick in ein Ofenloch endete. Heller müsste seine Freude an VR haben, denn damit lässt sich nun nicht mehr nur die Bildfläche, sondern auch der Raumeindruck transportieren, der sich dem Fernsehen immer verweigert hatte.
In England nutzt man die Neuentwicklung (die so neu auch wieder nicht ist, es gab bereits in den Neunzigerjahren einen ersten VR-Hype) nun als Vergnügungshysterieverstärker. Im britischen Themenpark Alton Towers in der Grafschaft Staffordshire hat eine Achterbahn eröffnet, auf der man während der Fahrt eine VR-Brille trägt. Wenn schon Raum, dann aber auch richtig: Man sieht nicht etwa die reale Achterbahnfahrt, die man absolviert, sondern wird mit der VR-Brille auf einen Flug durch den Weltraum mitgenommen.
Durch Bewegungssensoren in den Achterbahnwagen werden die reale und die Weltraumfahrt bis auf den kleinsten Ruckler miteinander synchronisiert. Simon Reveley von dem texanischen Software-Unternehmen Figment Productions, der die virtuelle Fahrt für den Themenpark geschaffen hat, findet diese Verbindung zwischen einer Fahrt, die die inneren Organe real wogen lässt, und der virtuellen Welt einzigartig: „Wir können die Eindrücke jetzt verstärken. Wenn wir dich in eine Kurve schicken, wirst du diese Kurve durchfahren wie nie zuvor.“
Auch vormals neue Medien wie das Kino haben sich auf dem Rummelplatz ihre Sporen verdient. Am Ende jedenfalls sind wir doch wieder bei dem uralten Kinderspiel mit dem Fernglas angelangt – nur dass der Spielplatz jetzt einer für Erwachsene ist.