Freitag abends, wenn andere das Wochenende mit ein paar Viertele begrüßen, beginnt der Feldzug des Heilsarmee-Offiziers Alex McNee und der Majorin Gudrun Dreilich durch die Cannstatter Kneipen. Teil fünf der Serie „Gleichgesinnt“.

Reportage: Akiko Lachenmann (alm)

Stuttgart - Immer Freitagabends, wenn mancher Bad Cannstatter in die Kneipen zieht, um sich den Verstand zu benebeln, beginnt der Feldzug des Offiziers Alex McNee und der Majorin Gudrun Dreilich. Mit durchgestrecktem Rücken sitzt der gebürtige Schotte vor einem Stapel von Heilsarmee-Magazinen und stempelt rhythmisch die Adresse des Cannstatter Korps ins Impressum. Seine Begleiterin huscht derweil mit der frisch gestärkten Bluse am Kleiderbügel in die Umkleide. In Uniform und mit der Sammelbüchse steht sie sogleich zum Abmarsch bereit. Noch ein kurzes Gebet mit der Bitte um Gottes Segen, dann setzt er schwungvoll seine Schirmmütze auf, sie platziert ihre Melone behutsam auf das gewellte Haar. Mit den Zeitschriften unter dem Arm und dem Gitarristen Hans Martin Keim im Schlepptau steuert die kleine Armee festen Schrittes ihrer ersten Schenke entgegen.

 

Die Heilsarmee von Cannstatt ist wieder auf Wirtschaftsmission. So nennt sie den obligatorischen Streifzug durch die Kneipen, um genau dort, wo der Teufel am Werk ist, die Heilsbotschaft zu verkünden. Das Samothraki ist ihre erste Station. Im Nebel von Zigarettenqualm nippen drei Männer mit glasigen Augen an ihrem Bier. Schweigsam schauen sie zu, wie sich der kleine Chor neben dem Flachbildschirm aufstellt, über den Bilder von zerbombten Häusern flimmern. „Wir singen von Jesus“, erschallt es. Der fröhliche Gesang übertönt den ernst blickenden Nachrichtensprecher, die Gitarrenakkorde unterbrechen die elektronischen Melodien der Spielautomaten. Drei Lieder lang singen sie gegen das triste Kneipenklima an. Die Stammgäste hören höflich zu, kramen nach Kleingeld und wenden sich wieder dem Glas zu.

Die Heilsarmee gibt es seit 1870. Damals erklärte ihr Gründer William Booth in London der Armut und dem Alkoholismus den Krieg. Booth hatte beobachtet, dass die Kirchen keinen Platz für soziale Randfiguren anboten, dass Obdachlose und Alkoholiker aus den Gottesdiensten rausgeschmissen wurden. Für sie wollte er kämpfen und gründete eine Streitmacht mit einer hierarchischen Struktur nach dem Vorbild des Militärs – mit Fahne, Wappen und eigener Grußformel. Sich selbst ernannte er zum General, dem die ganze Befehlsgewalt gehört. Die Gemeinden heißen bei der Heilsarmee daher Korps, die Pfarrer Offiziere, die Mitglieder Soldaten oder Salutisten. Sie tragen dunkelblaue Uniformen mit einem H auf dem Revers. Die Farbe der Schulterklappen zeigt den Dienstgrad.

Aggression gegen die Heilssinger

Anfangs musste die Heilsarmee in England nicht nur einen geistlichen, sondern auch einen irdischen Krieg führen. Wirte, die um ihren Umsatz fürchteten, versuchten, die Uniformierten gewaltsam an ihrer Arbeit zu hindern. Zudem wetterten Bürgervereine und Politiker gegen die Blaskapellen, die in den Straßen ausdauernd ihre Märsche zum Besten gaben. Der Ärger schlug in Aggression um: Bei Zusammenstößen im Jahr 1882 wurden 669 Salutisten niedergeschlagen, 86 inhaftiert und 56 Gebäude der Heilsarmee zerstört. Drei Salutisten verloren ihr Leben.

Heute können die Heilsarmisten zwar ohne Furcht ihrer Arbeit nachgehen. Die Wirtschaftsmission kann aber, je nach Kneipe, immer noch eine unbehagliche Pflicht sein. Im Ristorante Capretto, einem vornehmeren Italiener, verdreht mancher Gast die Augen oder vertieft sich in sein Smartphone. Dabei hat die kleine Delegation mit dem Gospel „Sing and pray“ vergleichsweise modernes Liedgut aus ihrem Repertoire gewählt. Nach dem ersten Song läuft Gudrun Dreilich mit der Sammelbüchse durch die Reihen. Sie nähert sich unaufdringlich und versteht es, sich genau dann zurückzuziehen, ehe sie den Gästen, die nichts geben wollen, unangenehm wird. Wer etwas spendet, dem bietet sie genauso zurückhaltend ihre Heilsarmee-Zeitschrift an. Nach dem dritten Lied sagt Alex Mc Knee mit seiner durchdringenden Stimme: „Wir danken für Ihre Aufmerksamkeit und Ihre Unterstützung unserer Arbeit hier in Bad Cannstatt.“ Das sagt er immer am Ende des Auftritts, egal, wie aufmerksam und spendabel das Publikum war.

Die Beharrlichkeit, mit der sie ihre Mission ungeachtet aller Widrigkeiten erfüllt, ist vielleicht das eindrücklichste Merkmal dieser Religionsgemeinschaft. Trotz Mitgliederschwund, trotz zweier Weltkriege hält sie fest an ihrem militärischen Gebaren, an ihrer Uniform, in der sie nicht selten verspottet oder mit Mitarbeitern der Deutschen Bahn verwechselt werden. Immer wieder mussten sie Kritik einstecken: dass ihr Glaubensverständnis einen dünnen theologischen Unterbau habe, dass sie die Situation von Notleidenden für missionarische Zwecke ausnutzten. Doch die Heilsarmisten gehören nicht zu den Menschen, die sich mit kritischer Selbstreflexion aufhalten. Für sie zählen allein Taten. Denn die Welt mit Gott zu versöhnen erfordert unermüdlichen Einsatz, den William Booth so beschrieb: „Mach etwas, mach es sofort. Mach es mit aller Kraft. Scheue keine Schmerzen.“

„Wer Gott folgt, riskiert seine Träume“

Und so marschiert die Cannstatter Armee weiter zur Gaststätte Jakobsbrunnen und stimmt das Lied „Gott öffnet jedem die Tür“ an, obwohl die Tonlage hoch ist und Offizier Mc Nee allmählich seine Stimme verliert. „Wir haben gestern neue Lieder geübt für unseren Auftritt auf dem Samstagsmarkt“, sagt er – und singt weiter mit den Fingern am Kehlkopf.

Vor dem Wirtshaus Zur Sattlerei rennt ihnen knurrend ein weißer Pudel entgegen. Vielleicht hält er sie für Briefträger. Sie würdigen ihn keines Blickes und fahren fort mit dem Lied „Wer Gott folgt, riskiert seine Träume“, während die Gäste aus Bierdeckeln Türmchen bauen. Im Wettbüro Bet 3000 ist ihr Auftritt unerwünscht. Trotzdem geht die Majorin Dreilich hinein und offeriert ihre Zeitschriften.

Sie sind dickhäutig und kennen keine Berührungsängste. Bei der Straßenmission sprechen sie Männer an, die volltrunken auf dem Boden liegen, bei der Essensausgabe begegnen sie verarmten Witwen, die vor lauter Einsamkeit mit sich selbst reden. Um Vorbild zu sein, unterzeichnen die Uniformierten ein Versprechen, keinen Alkohol oder andere Rauschmittel zu konsumieren. Sex vor der Ehe ist ein Tabu. Für Offiziere wie McNee geht der Verhaltenskodex noch weiter. Sie sind angehalten, ein bescheidenes Leben zu führen vom Zehnt der Gemeindemitglieder. Und wenn von oben die Order kommt, das Korps zu wechseln, wird von ihnen Gehorsam erwartet.

Der jüngste Soldat ist 47

Man könnte meinen, die Heilsarmee hat mit ihren Vorschriften bald ausgedient. Zwischen den Weltkriegen waren es noch Zehntausende, die in ihrer Uniform marschiert sind. Übrig geblieben sind bundesweit 1300 Mitglieder. Auch in Cannstatt wächst schon lange nichts mehr nach. Der jüngste Soldat ist der Organist Christopher Kothe, der jeden Sonntag seinen Dienst verrichtet. Er ist 47 Jahre alt. Wie viele wurde er in die Heilsarmee hineingeboren. „Wir waren mal 100 Salutisten“, erinnert er sich. Heute sind es noch um die 20. Anders sieht es im Osten der Republik aus. Dort ist offenbar zu DDR-Zeiten, als das Regime Religion als „Opium für das Volk“ ablehnte, ein Bedürfnis nach Spiritualität entstanden. Ob in Chemnitz, Erfurt oder Berlin: Jugendliche folgen mit Enthusiasmus dem Kriegsappell. „Zehn neue Korps sollen bis 2030 in den neuen Ländern entstehen“, sagt Andreas Quiring, der Pressesprecher der Heilsarmee. „Vision 2030“ lautet das Strategiepapier.

Den Aufbruchsgeist im Osten kennt Offizier Mc Nee nur vom Hörensagen. Sein Trupp ist fast am Ziel. Noch einmal werden sie in der Traditionsweinstube Zur Schreinerei von beschwipsten Gästen gebeten, den Heilsarmee-Schlager „Lass den Sonnenschein herein“ zu singen. Sie kommen der Bitte mit heiserer Stimme nach, die Gäste schunkeln bierselig mit. Anschließend spendiert ihnen der Wirt eine Runde Johannesbeersaftschorle.

Zurück im Gemeindehaus wird die Büchse geleert. 112 Euro und 94 Cent notiert Mc Nee im Nachweisbuch. Majorin Freilich bestätigt den Betrag mit ihrer Signatur. Das Gespendete geht an Bedürftige in Bad Cannstatt. Bis auf eine Zehn-Rappen-Münze, die sich in die Sammelbüchse verirrt hat. McNee denkt kurz nach. „Die nehme ich zu mir“, sagt er dann. Denn er werde bald ins Schweizer Schaffhausen fahren. „Da gibt es einen wunderbaren Bibelladen.“