Drei, zwei, eins – und los geht’s: Ein Gleitschirmflug über dem Hohenneuffen aus Sicht der StZ-Autorin Konstanze Faßbinder.

Neuffen - Die Sonne scheint, der Wind bläst, genau richtig, sagt der Experte, der Fluglehrer Markus Haug. Mit ihm werde ich gleich abheben zu meinem ersten nicht motorisierten Flug vom Hohenneuffen, dem kleinen Gleitschirmflug-Dorado am Nordrand der Schwäbischen Alb. Über dem Neuffen muss die Freiheit wohl grenzenlos sein, denke ich. Doch so einfach ist das mit dem Fliegen nicht. Erst mal heißt es: sehenden Auges in den Abgrund laufen.

 

Für ein paar Minuten werde ich mein Leben komplett in die Hand eines Fremden geben. Das klingt übertrieben, denn eigentlich macht das jeder ständig. Im Flugzeug, im Bus, in der Tram, bei der Mitfahrgelegenheit. Aber mit dem Gleitschirm ist das trotzdem was anderes. Ob das alles so eine gute Idee war, da bin ich mir kurz vor dem Start nicht mehr sicher. Unten war es auch schön. Oder?

Markus Haug, graubraune Haare, sportlicher Typ, ist staatlich geprüfter Gleitschirmtandempilot und hat seit mehr als sechs Jahren seinen Flugschein. In seinem normalen Leben ist er Drucker, verheiratet, Vater eines siebenjährigen Sohnes und ganz offensichtlich geübt darin, bauchlöchernde Fragen geduldig zu beantworten. Mit seiner orange-grün verspiegelten, windschnittigen Sonnenbrille und der gebräunten Haut sieht man ihm an, dass er viel Zeit an der frischen Luft verbringt. Das ist ja eigentlich vertrauenerweckend, finde ich.

Alles sitzt, wackelt und hat Luft

Mit einem lauten „Klick!“ schnallt er den vom Rücken durch den Schritt führenden Riemen mit den beiden Hüftgurten zusammen. Wenn überhaupt, ist Haugs schmal rasierter Backen- und noch dünnerer Oberlippenbart das Einzige, das man an ihm als gewagt bezeichnen könnte. Akribisch prüft er alle Gurte, mit denen mein Rucksack an mir befestigt ist. Später wird der am Schirm eingehängt, ausgeklappt – und mir beim Flug als Sitz dienen. Noch kann ich mir das nicht so gut vorstellen. Mit einer akkuraten Bewegung zieht er die Riemen an den Oberschenkeln nach. Ich fühle mich gut verpackt. Alles sitzt, wackelt und hat Luft.

Am Nordstartplatz herrscht derweil ein reges Kommen und Fliegen. Die Piloten tragen Funktionskleidung und Reinhold-Messner-Bergschuhe aus hellbraunem Leder. „Servus Markus, wie geht’s?“, tönt es mehrfach, für mich gibt es ein freundliches Kopfnicken. Plötzlich gleitet ein Schirm weit über unseren Köpfen. „Ist das der Ingo? Ja, das ist der Ingo“, konstatiert Haug nach einem kurzen prüfenden Blick, „die Fußhaltung, eindeutig. Den dreht’s grad ordentlich!“ Tatsächlich, selbst ich sehe, dass Ingo in seinem Sitz hin und her geworfen wird, nach gemütlichem Schunkeln sieht das gar nicht aus.

Zum ersten Mal wird mir richtig bange. Doch Haug beruhigt. Erstens nehmen wir für unseren Tandemflug nicht den gleichen Startplatz wie Ingo. Er ist drüben an der Steilkante losgeflogen, am Weststartplatz, der laut Website des Drachenfliegerclubs Hohenneuffen die Schwierigkeit „schwer“ hat. Da der Passagier beim Tandemflug vorne sitzt, hätte ich dort voraus in den Abgrund springen müssen. „Das ist viel zu heikel“, sagt Haug. Finde ich auch, weil sowieso unmöglich, denke ich. Spätestens einen Zentimeter vor dem Abgrund würde ich verweigern wie ein Pferd vor dem doppelten Oxer, so viel ist sicher. Und dann? Nicht weiter darüber nachdenken.

Trockenübung in Sachen Anlauf

Ich höre lieber Haug zu, der mir den zweiten Grund erläutert, warum mir eine Achterbahnfahrt wie Ingo erspart bleiben wird: Mit unserem Tandemschirm kommen wir schlicht gar nicht so hoch. Bei doppeltem Gewicht hat er nur etwa 30 Prozent mehr Fläche als ein einfacher Gleitschirm – und reagiert im Vergleich dazu „wie ein Sattelschlepper zum Sportwagen“. Das klingt für mich beruhigend schwerfällig.

Jetzt steht nur noch der Start zwischen mir und meinem ganz persönlichen Flugerlebnis. Gemeinsam mit Markus Haug absolviere ich dafür eine Trockenübung in Sachen Anlauf. Sie funktioniert wie folgt und hilft mir deshalb nicht, meine Aufregung loszuwerden: Während er meinen Rucksack festhält, renne ich los, besser gesagt, ich versuche es. Denn ich komme ja kaum voran. Auf diese Weise simuliert Haug den sich aufblähenden Schirm, der uns später beim Start nach hinten ziehen wird. Ich hänge also in meinem Geschirr und trample in Läuferstellung mehr oder weniger auf der Stelle. Es muss ungefähr so aussehen wie bei der Comicmaus Jerry, wenn sie auf ihrer Flucht vor Kater Tom von ebendiesem am Mäuseschwanz festgehalten wird. Nur nicht so putzig. Aufmerksam beobachten ein paar Spaziergänger meine sportliche Darbietung.

Dann wird es ernst. Wir gehen zur Mitte des Startplatzes, wo die ausgetretene Erde mit Kunststoffgittern verstärkt ist. Hier beginnt unsere Startrampe, ein sehr steiler, mit Gras bewachsener Hang. Niemals kann ich den in Ideallinie runterlaufen, denke ich, höchstens runterkugeln, und das kann niemand wollen. Nach geschätzten 30 Metern gesellen sich Bäume und stachelig-dürres Gebüsch zum superfiesen Neigungswinkel. Dort sollten wir bereits abgehoben haben. Was passiert, wenn wir das nicht schaffen? Ich will es mir nicht ausmalen.

Bitte keine Turbulenzen!

Markus Haug legt den schlaffen Stoff des etwa zehn Meter breiten Schirms am Boden oberhalb unseres Startplatzes aus. Dünne Schnüre in Neonfarben führen fächerförmig zu uns hin. Sie werden an unseren Sitz-Rucksäcken befestigt. Und dürfen sich beim Start auf gar keinen Fall verheddern. Sonst gibt es nämlich Turbulenzen. Bitte nicht!

Ich blicke lieber nach vorne. Der Gegensatz zwischen mir und dem seelenruhigen Panorama könnte größer nicht sein. Geradeaus blauester Himmel, rund 300 Meter tiefer die Ortschaften Beuren und Neuffen. Dazwischen: eine Landschaft aus grünen Weinbergen, senfgelben Feldern und olivbraunen Wäldern. Die Sonne steht tief im Westen und beleuchtet die Streuobstwiesen am Albtrauf vorteilhaft, sie wirken frühlingshaft satt. Als graue Eminenz thront links von uns die Burgruine Hohenneuffen. Doch genug geschaut – die in unsere Richtung wehenden Fähnchen signalisieren Nordwind. Es ist so weit: Markus Haug gibt das Startkommando.

„Bin bereit“, sage ich und bin mir nicht sicher, ob das denn auch stimmt. „Drei, zwei, eins – los!“ Meine Beine haben sich ein wenig zu früh in Bewegung gesetzt. Wieder fühlt es sich so an, als käme ich, kämen wir nicht vom Fleck. Der mächtige Widerstand von 42 Quadratmetern Nylon reißt uns erst nach hinten, dann nach oben.

Unter mir ist eine Spielzeugwelt

Ist es steil? Bestimmt, denke ich, da berühren meine Schuhsohlen den Boden nicht mehr.

Ich strample kurz unbeholfen, beginne in einer Mischung aus Euphorie und Hysterie zu lachen. Unfassbar, ich habe es geschafft, bin nicht den Hang hinabgestolpert. Ich fliege! Der Wind schiebt die Mundwinkel noch weiter nach hinten.

Kreisend gewinnen wir an Höhe. Jetzt die Minuten nutzen, die Kraft der Thermik genießen, das Tempo, die kalte Luft, die Sicht auf die Spielzeugwelt unten. Jetzt noch nicht an die nächste Hürde denken. Die Landung soll auch nicht ohne sein. Jetzt nicht viel denken. Wir machen das schon, irgendwie.