Volker von Mallinckrodt ist 180 000 Kilometer durch Europa geradelt. Sein Fahrrad steht nun im Psychiatriemuseum MuSeele der Göppinger Klinik Christophsbad.

Göppingen - Wie kommt dieses Fahrrad als Ausstellungsstück in das MuSeele? Rolf Brüggemann lacht. Der Leiter des Museums für Psychiatriegeschichte in der Göppinger Klinik Christophsbad ist bekannt dafür, die Dinge aus einer ungewohnten Perspektive zu betrachten, und dieses rote Fahrrad hat es ihm angetan. Nicht nur, weil es einem Patienten gehört. „Mich interessiert das Psychiatrische in diesem Zusammenhang gar nicht“, sagt er. In seinen Augen steht der bunt bewimpelte, mit Blumen, leeren Getränkedosen und Pflanzen geschmückte Drahtesel für einen Menschen, der „so außergewöhnlich ist, dass man sich gut vorstellen kann, dass es nicht immer in seinem Leben geradlinig gelaufen ist“. Das ist glatt untertrieben. Volker von Mallinckrodt ist ein Außenseiter seit jeher. Brüggemann sagt, er sei ein Idealist mit künstlerischem Potenzial.

 

Ein Idealist muss man auch sein, wenn man im Fahrradsattel fast 180 000 Kilometer zurücklegt. Auch wenn von Mallinckrodt dafür 22 Jahre gebraucht hat, ist diese Bilanz beachtlich. Sein Antrieb war nicht sportlicher Natur. Er strampelte sich ab, um die Welt zu verbessern und Fremdenfeindlichkeit und den zunehmenden Rechtsextremismus anzuprangern. Ein Bemühen, das so aussichtslos erscheint wie einst Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen. Und der heute 78-Jährige denkt noch immer nicht an Kapitulation. „Die Power geht mir nicht aus“, sagt er. So schwingt er sich oft auf sein Ersatzfahrrad, um vom Christophsbad aus seine Runden durch Göppingen zu drehen.

In ganz Europa unterwegs

Doch so ungebrochen sich von Mallinckrodt auch gibt: Er hat einen Preis für sein Anders-Sein bezahlt. Er hat fast alles verloren, was es im Leben zu verlieren gibt: seine bürgerliche Existenz, seine Frau, hin und wieder auch seine Freiheit. Vor mehr als zwei Jahren wurde er in die Psychiatrie eingewiesen. Mittlerweile dürfte er wieder gehen, doch noch bleibt er. Er suche eine Wohnung in Blaubeuren, erzählt er.

Vor seinem Aufenthalt in der Psychiatrie hat Volker von Mallinckrodt ganz Deutschland unter seine Reifen genommen. Er war aber auch in Frankreich, Spanien, Italien, der Schweiz und in der Türkei unterwegs. „Die Türken mögen die Deutschen“, sagt er.

Auf seinen Touren hat er stets polarisiert. Die einen taten ihn als Spinner ab und verlachten ihn, manche zerstörten sogar sein Fahrrad. Die anderen fanden ihn beeindruckend und unterhaltend. Der belesene gebürtige Stuttgarter trägt gern Gedichte berühmter Literaten vor. „Das kann er auch gut", sagt Brüggemann. Viele, die ihn nett fanden, luden ihn auch zu sich nach Hause ein. Daran erinnert sich von Mallinckrodt besonders gern.

Mehr Power als Mario Cipollini

Einen guten Stand hatte er auch bei der Presse. Wo immer er mit seinem Fahrrad auftauchte, waren Journalisten und Fernsehteams nicht weit. Besonders stolz ist er über einen Artikel in der Gazzetta dello Sport, die ihm attestierte, er habe mehr Power als die italienische Radrennlegende Mario Cipollini. Von Mallinckrodt hatte mit seinem schweren Fahrrad den San-Bernardino-Pass bezwungen. Zufällig hatte ein Reporter der Gazzetta dello Sport ihn in die Pedale treten sehen und ihn sofort zum Interview gebeten. Sagt von Mallinckrodt. Und das dürfte gesichert sein.

Bei manchen seiner Erzählungen ist jedoch nicht auszumachen, ob sie der Realität oder dem Reich seiner unerschöpflichen Fantasie entspringen. Er erzählt von einer Freundschaft mit dem Jazz-Pianisten Oscar Peterson, dass er mit dem Kabarettisten Dieter Hildebrandt Tennis gespielt habe und das Supermodel Claudia Schiffer kenne. „Er ist nicht immer der glaubwürdigste Berichterstatter seiner Geschichte“, sagt Brüggemann. „Er denkt sich immer was dazu.“ Störend empfindet Brüggemann das nicht. Von Mallinckrodt sei ein Lebenskünstler. „Man kann ihn pathologisieren – oder bewundern für seine Energie. Er ist verrückt im positiven Sinn.“

Diese ungeheure Energie, die der 78-Jährige noch immer verströmt, erinnert Brüggemann an Gustav Mesmer, den Ikarus vom Lautertal. Nach Jahrzehnten in der Psychiatrie kam dieser in ein Altenheim nach Buttenhausen auf der Schwäbischen Alb. Dort flocht er bis ins hohe Alter Körbe, schrieb, zeichnete und schuf Flugfahrräder und Schwingenflugapparate. Seine Werke wurden sogar in New York, Gent, Lausanne und Sevilla ausgestellt.