Gab der Sonnenstand an Mariä Verkündung den Ausschlag für die Umbenennung des Endelberges bei Leonberg Ende des 16. Jahrhundert?

Die Landschaft als Kalender, wie auch die Symbolik der Sonne, sind heute aus dem Bewusstsein der Menschen so gut wie verschwunden“, bedauert Reinhard Gunst. Er vertritt die Auffassung, dass der Wandel von der Flurbezeichnung Endelberg für die rund 480 Meter hohe Erhebung im Osten von Leonberg zum heutigen Name Engelberg wohl einen realen Hintergrund im Glauben der damaligen Zeit hat. Und das nicht von ungefähr, denn Reinhard Gunst (Jahrgang 1957) arbeitet zwar als selbstständiger Architekt in Stuttgart , ist aber auch ein Autor, der sich seiner Vorliebe widmet, nach den Hintergründen alter Mythen zu suchen.

 

Reformation und Kalenderwechsel

Die eigentümliche Form der Landschaft prägte wohl einst den Namen des heutigen Engelberg. Ursprünglich als Endelberg bezeichnet, verwies der Flurname auf das Ende eines Geländesporns, der sich im Südosten mit der Gerlinger Heide fortsetzte. Dieses charakteristische Landschaftsbild beschrieb das mittelhochdeutsche Wort endel, das sowohl Ende, aber auch entfernt bedeutete. Das hatte lange Zeit Bestand, doch im 16. Jahrhundert scheint es einen Bewusstseinswandel in der Stadt gegeben zu haben, der zum heutigen Name Engelberg führte.

„Eine Naturbeobachtung, die vom Schloss, der Stadtkirche, aber auch von einzelnen Gebäuden der Stadt gemacht werden konnte, beeinflusste wohl diese Namensänderung“, argumentiert Gunst. So konnte im 16. Jahrhundert von diesen Orten aus der Sonnenaufgang am Tag von Mariä Verkündigung (25. März) über dem Hochpunkt des Endelberges beobachtet werden.

Da in den damals reformierten Gebieten aber noch immer der alte julianische Kalender verwendet wurde, gab es eine Differenz von zehn Tagen zwischen dem astronomischen Sonnenaufgang und dem Datum. Zwar hatte die im Jahr 1585 erfolgte gregorianische Kalenderreform dieses Auseinanderdriften von Sonnenlauf und Datum durch eine Neujustierung des Kalenders bereinigt, doch in vielen Regionen wurde eben der alte julianische Kalender noch bis in 17. Jahrhundert verwendet.

Hohes Fest am 25. März

Obwohl mit der Reformation einige der beliebten Marienfeiertage entfielen, war das Fest Mariä Verkündigung für den Reformator Martin Luther eines der wichtigsten Kirchenfeste, weiß Reinhard Gunst. Luther sah es als „eins der fürnehmsten Feste“ der Christen an. Ausführlich wird dieses Ereignis im Lukasevangelium geschildert, dem ältesten der vier Evangelien. Der Evangelist beschrieb hier, wie der Engel Gabriel ins Haus der Maria eintrat und sie mit den Worten begrüßte: „Sei gegrüßt, du Begnadete, der Herr ist mit dir.“ Ausführlich beschrieben werden die Anweisung des Engels und seine Botschaft an Maria, die den Sohn Gottes vom Heiligen Geist empfangen und gebären würde.

„Gabriel war also der Engel der zum Namen des Berges führte“, sagt Reinhard Gunst. Der Name Engel drücke ja bereits eine entlegene Region aus, die von Menschen nicht erreicht werde, und auf diese Eigenschaft habe bereits der ursprüngliche Name Endel hin. Er kann oberflächlich zwar als Ende des Höhenzuges gesehen werden, doch rein räumlich war er durch den Taleinschnitt bei Leonberg von der Stadt getrennt und deshalb wohl ein entlegenes Terrain.

Im Mittelalter ändert sich die Sicht auf die Sonne

Ein Sonnenaufgang wird heute frei von symbolischen Bedeutungen gesehen, die in jener Zeit noch eng mit dem Glauben verbunden waren. Wurde die Verwendung der Sonnensymbolik in der frühen Kirche wegen der Nähe zur römisch-griechischen Mythologie noch abgelehnt, wandelte sich diese Sicht ab dem frühen Mittelalter.

Während frühe Gelehrte noch der Überzeugung waren, dass das Licht eine eigene Substanz sei, schuf der Franziskanerpater Bonaventura von Bagnoregio eine ganz eigene Theologie des Lichtes. So war er der Auffassung, dass Gott selbst in seinem Wesen reines Licht sei und alles Licht in dieser Welt eine „Lichtemanation“ darstelle. Bonaventura sah also Licht als die einzige Substanz, die aus Gott selber hervorging, und damit hatte Licht auch den Nimbus des Göttlichen.

Doch der Engelberg in Leonberg stehe mit seiner Bezeichnung nicht allein da, schildert Gunst. Auch in der Nähe von Beuren, unweit der Teck, gibt es einen gleichnamigen Berg. Bis zur Reformation lag auf einem Schlot des ehemaligen Vulkans noch ein bedeutender Marienwallfahrtsort mit einer Kapelle und wohl auch einem Frauenkloster. Alljährlich fanden hier Wallfahrten zu einem Gnadenbild der Maria und einem Greifen-Ei statt.

Auch bei Beuren gibt es einen Engelberg

Auch hier sei der Bezug von Sonnenaufgang und Flurname zu erkennen, ist Gunst überzeugt. So war bis zum Ende des Mittelalters vom Beurener Engelberg der Sonnenaufgang am Morgen des Festes Maria Aufnahme in den Himmel, oder auch Mariä Himmelfahrt, direkt über der Burg Teck zu sehen. Bei diesem Ereignis, das auch als Vollendung Marias bezeichnet wird, sollen gemäß den Evangelien Engel die Jungfrau in den Himmel getragen haben.

„Beide Berge erfüllten eine ähnliche Funktion“, sagt der Stuttgarter Architekt. Während der Leonberger Engelberg den Markierungspunkt für den Sonnenaufgang darstellte und damit an die theologische Bedeutung erinnerte, habe der Beurener einen Beobachtungspunkt für diese Erscheinung geboten. Beide Funktionen verwiesen aber auf eine Jahrtausende alte Tradition, die Landschaft als eine Art Kalender zu betrachten, in dem Sonnenaufgänge wichtige Kalendertage markierten.