Fatih Akin gewinnt für sein NSU-Drama „Aus dem Nichts“ einen Golden Globe – und ist plötzlich auch ein heißer deutscher Oscar-Kandidat. Wie konnte es dazu kommen?

Kultur: Tim Schleider (schl)

Los Angeles - „Wahnsinn! Unglaublich, ich kann es gar nicht fassen! Krass! Krass!“ Das sind die ersten Worte des deutschen Filmregisseurs Fatih Akin gewesen, als die Deutsche Presse-Agentur ihn wenige Minuten nach dem Golden-Globe-Gewinn am Telefon erwischte. Danach schreibt die Agentur im Text übrigens „(. . .)“, woraus wir schließen, dass Akin noch ausführlicher gejubelt hat. Und wer könnte ihm das verdenken? Der nach dem Oscar zweitwichtigste US-Filmpreis ehrt nicht nur das bedrückende NSU-Drama „Aus dem Nichts“. Sondern er zeigt vor allem, dass Akin Filme zu drehen versteht, die auch ein US-Publikum überzeugen.

 

Am schönsten aus der Reihe von Begeisterungsvokabeln ist übrigens das doppelte „Krass!“. Es ist so typisch für den 44-jährigen Regisseur, durch und durch ein Hamburger Jung, der spätestens seit seinem Triumph mit „Gegen die Wand“ 2004 auf der Berlinale eine der prägenden Figuren eines kraftvollen und engagierten deutschen Films ist. Nicht alles, was er danach anpackte, gelang. Aber egal, wie Kritik und Publikum reagierten, ob nun bei „Crossing the Bridge“ oder „Auf der anderen Seite“, bei „Soul Kitchen“ oder „Tschick“ – überall war Akins ganze Leidenschaft zu spüren, nach den richtigen Bildern und dem richtigen Ton für jene Themen zu suchen, die ihn persönlich bewegen. Nirgends war Routine oder Film-Fördertopf-Subventions-Bräsigkeit.

Deswegen wäre es ein großer Fehler, den Globe-Erfolg für „Aus dem Nichts“ allein dessen hochpolitischem Thema zuzuschreiben. Natürlich knüpft Akins Geschichte sehr eng an den jahrelangen Terror der NSU-Nazibande gegen deutsche Bürger mit ausländischen Wurzeln an. Er erzählt von einer jungen Hamburgerin, deren kurdischer Ehemann und kleiner Sohn bei einem Nagelbomben-Attentat ums Leben kommen. Andererseits ist das weitere Geschehen nur sehr locker mit der NSU-Realität verknüpft. In Akins Film werden die beiden Attentäter gefasst und kommen vor Gericht; aufgrund unzureichender Beweise und dem Prinzip „in dubio pro reo“ werden sie frei gesprochen. Im letzten Filmteil steht die junge Witwe darum vor der Frage, ob sie sich selbst womöglich Gerechtigkeit verschaffen kann.

Diane Kruger ist viel mehr als nur ein Besetzungscoup

Spätestens hier wird deutlich, dass es Akin sehr viel weniger als in vielen Kritiken behauptet darum ging, die deutsche Polizei oder die Justiz ob ihrer langjährigen Blauäugigkeit gegenüber rechten Terroristen anzuprangern. Den Hamburger interessiert etwas ganz anderes – nämlich die Frage, wie die überlebenden Opfer der rechten Gewalt (und dazu gehören natürlich die Angehörigen der Toten) weiter leben können. Exakt hier und nur hier spielt übrigens eine Rolle, dass der deutsche Regisseur Fatih Akin selbst Kind türkischer Einwanderer ist – und damit selbst Angriffsobjekt wachsender Vielfalts-Feindlichkeit in Deutschland.

„Aus dem Nichts“ ist ein künstlerisch von der ersten bis zur letzten Minute überzeugender Film, glänzend gedreht, ebenso sensibel wie respektvoll geschnitten, bewegend in beinahe jedem Augenblick – und natürlich geadelt durch die Hauptdarstellerin Diane Kruger, die als deutscher Filmstar in Hollywood schon manchen Schmonz abliefern musste, bevor Quentin Tarrantino 2009 in „Inglourious Basterds“ auf ihre wahren Qualitäten hinweisen durfte. Mit jener Verzweiflung, aber auch Kraft, die sie nun unter Akins Regie darzustellen versteht, hat sich Kruger in Oscar-Nähe katapultiert. Am 23. Januar wird die Filmakademie ihre Nominierungen für die Oscars-Nacht bekannt geben. Sehr wahrscheinlich wird Fatih Akin auf der Liste stehen – mit dann guten Chancen, auch am 4. März aus den „Krass!“-Rufen nicht so schnell herauszukommen. Aber es gibt ja noch „Voll krass“.

In Stuttgart ist „Aus dem Nichts“ derzeit im Delphi und im EM zu sehen.