Der Herr der Hörscharen hat auch mal klein angefangen: Vor 70 Jahren machte Gotthilf Fischer, Deutschlands bekanntester Chorleiter, seine ersten Tonaufnahmen – in seiner Wohnung im Stuttgarter Westen.

Lokales: Tom Hörner (hör)
Stuttgart - – Herr Fischer, Sie sangen mit Ihren Chören schon vor US-Präsident Jimmy Carter. Würden Sie auch vor Donald Trump singen?
Jederzeit, da kenne ich nichts. Wir würden einen amerikanischen Song singen, der geht so (stimmt ein altes Lied aus dem Sezessionskrieg an): „Tramp, tramp, tramp, the boys are marching.“ Ich singe vor jedem, er muss nur Mensch sein.
Aber der Anlass unseres Gesprächs ist ein anderer. Sie haben vor 70 Jahren Ihre ersten Tonaufnahmen gemacht. Erinnern Sie sich noch daran, wie das war?
Klar erinnere ich mich daran. Das war die Zeit, als ich frühmorgens in Deizisau die Stuttgarter Nachrichten ausgetragen habe. Wir waren zwei junge Kerle und froh um jede Mark, die wir uns dazuverdienen konnten. Ich hatte erste Erfolge als Chorleiter gefeiert, aber natürlich kein Geld.
In welchem Tonstudio sind die Aufnahmen entstanden?
Tonstudio? Wir hatten 1946 doch kein Tonstudio zur Verfügung, wo denken Sie hin. Wir haben die Aufnahmen in meiner Wohnung im Stuttgarter Westen gemacht, in der Senefelder Straße 72 b. Der Männerchor hatte sich vor riesigen Röhrenmikrofonen positioniert, die waren immens schwer, man brauchte beide Hände, um die Dinger überhaupt tragen zu können. Rolf Bauer, der Gründer des gleichnamigen Bauer-Studios aus Ludwigsburg, das es heute noch gibt, hatte sie aufgestellt.
Ein kompletter Männerchor fand in Ihrer Wohnung Platz?
Es ging natürlich eng zu. Außerdem waren die Stromanschlüsse in der Wohnung viel zu schwach. Deshalb mussten wir an der Hauswand entlang Stromkabel bis in die Wohnung hochziehen, um die Magnettonmaschine überhaupt betreiben zu können.
Und was haben Sie aufgenommen?
Es waren fünf Lieder, allesamt von mir arrangiert. „Rosemarie“, „Nun leb’ wohl du kleine Gasse“, „O wunderschöne Frauen“, „Suliko“ und meine Eigenkomposition „Feierliche Stille“. Bei „Suliko“ bin ich selbst als Solist zu hören. Über ein halbes Jahr lang habe ich mit meiner Managerin Esther Müller mein hauseigenes Archiv durchforstet. Dabei entdeckten wir auch die Noten zu „Eine Sehnsuchtsmelodie“, meine allererste Eigenkomposition aus dem Jahr 1946. Da war ich überglücklich – denn ich dachte eigentlich, ich hätte sie verloren.
Die bis zu 70 Jahren alten Tonbänder waren noch zu gebrauchen?
Ja, aber wir ließen sie von Matthias Niemyt technisch aufbereiten, ein Mann, der eigentlich auf die Produktion von Hip-Hop-Musik spezialisiert ist.
Und Ihre ersten Aufnahmen kann man sich jetzt, wie sich das für die heutige Zeit gehört, in Download- und Streamingportalen im Internet herunterladen?
Sicher. Aber nicht nur die, alles in allem sind es 300 Musiktitel. Ein guter Teil meines Repertoires, das in den vergangenen 70 Jahren entstanden ist. Wenn das Interesse groß ist, werden wir eine Box mit zehn CDs herausbringen. Wissen Sie, ich habe zeitlebens Lieder geschrieben wie andere Leute Bücher. Was mich übrigens am meisten freut, ist, dass meine Lieder auch im Ausland heute noch gesungen werden. Beispielsweise mein „Frieden“. Wie oft habe ich mir in all den Jahren anhören wissen: „Was will der Fischer nur mit ,Frieden’? Wir haben doch Frieden.“ Aber wenn ich mir die Welt anschaue, sieht es anders aus.
Sie sind nicht einfach zu erreichen, sind noch immer ein viel beschäftigter Mann.
Selbstverständlich. Ich mache nach wie vor Chorproben und gebe Konzerte. Vor allem jetzt, wenn es wieder auf Weihnachten zugeht, bin ich fast jeden Tag woanders. Manchmal mit zehntausend Leuten, manchmal nur mit ein paar hundert. Aber das spielt keine Rolle. Singen funktioniert immer, solange die Menschen das Gefühl haben, dass man sie ernst nimmt.
Hand aufs Herz, Herr Fischer, sagt man mit 88 Jahren nicht auch mal einen Termin ab?
Im Gegenteil. Wenn man älter wird, muss man Gas geben. Ich bin bei den Chorproben nach wie vor freundlich, aber auch härter geworden.
Was treibt Sie an?
Die Musik treibt mich an. So eine Probe macht mich jünger, das ist klar – und meinen Chormitgliedern geht es nicht anders. Wenn die Leute nach einem anstrengenden Tag abends zur Chorprobe kommen, wirken sie oft abgekämpft. Aber nach ein paar Takten geht ein Strahlen über ihr Gesicht. Dass ich noch gut in Form bin, hängt auch damit zusammen, dass ich diszipliniert lebe. Ich esse in Maßen und Alkohol ist tabu.
Sie haben uns vor Jahren erzählt, Sie bekämen besonders viele Autogrammwünsche aus Australien. Ist das noch immer so?
Klar, meist sind es Auslandsdeutsche, die Heimweh haben. Lieder wie „Im schönsten Wiesengrunde“ haben die Menschen mitgenommen – und an die halten sie sich heute noch. So sind viele im Grunde ihres Herzens Deutsche geblieben. Wir merken das, wenn wir im Ausland auftreten. Da dürfen wir nur deutsche Lieder singen.
Sie waren neulich zu Gast bei der 70-Jahr-Feier der Stuttgarter Nachrichten. Ihre Bedingung war, dass Sie am Anfang auftreten können, um hinterher noch zur Chorprobe zu können.
Ja, das bin ich meinen Sängerinnen und Sängern schuldig. Wenn ich mal nicht kann, sagen sie, dann lassen wir es lieber ausfallen. An dem Abend bin ich zur Hauptprobe meiner Chöre nach Bönnigheim.
Immerhin überlassen Sie das Autofahren inzwischen jemand anders.
Das macht meine Managerin Esther Müller. Und das macht sie erstklassig. Ich sage immer: Die fährt totsicher.