Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)
Wenn ein männliches Baby zur Welt kommt, ist sein gesellschaftlich-kulturelles Bewusstsein noch nicht vorhanden. Es wird erst im Laufe seines Leben durch Erziehung, Religion, Kultur und ganz generell den Umgang mit anderen geprägt. Wann entwickelt sich das Selbstverständnis, was ein Mann ist und sein soll?
Wenn ein Mensch geboren wird, verfügt er noch nicht über die Bewertung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Natürlich gibt es gewisse Differenzwahrnehmungen zwischen männlichen und weiblichen Neugeborenen. Aber all das, was wir Individualität, Subjektivität und Persönlichkeit nennen, entsteht erst durch die lebenslange Wahrnehmung und Verarbeitung von Differenzen, zu denen auch wieder Geschlechterunterschiede gehören. Das ist ganz wichtig.
Die Frage ist doch, wann und wie die unterschiedlichen Wahrnehmungen des eigenen und anderen Geschlechts entstehen und ablaufen. Und wann und wie etwas schief läuft.
Und das ist genau die Einflugschneise für kulturelle und religiöse Einflüsse, für Auf- und Abwertungen der Geschlechter. Das passiert nicht plötzlich nach der Geburt, sondern ist ein lebenslanger Prozess, der die gesamte Sozialisation eines Menschen begleitet. Oft werden nachträglich einmal gemachte Erfahrungen umgeschrieben oder neu zusammengesetzt. Dadurch kommt es zu sehr tief sitzenden Einstellungen, Selbstaufwertungen und Fremdabwertungen. Das Ergebnis: In männlich bestimmten Kulturen müssen sich Männer als das wichtigere und überlegene Geschlecht sehen und dies bei Krisen auch unter Beweis stellen.
In dieser Hinsicht ähnelt die Entwicklung der Geschlechterrollen und ihrer Wahrnehmung anderen sozial- und entwicklungspsychologischen Prozessen – wie zum Beispiel dem Verhältnis gegenüber Fremden.
Das ist ein ähnlicher Prozess, den wir tatsächlich auch in der Fremdenfeindlichkeit vorfinden. Da wird auf ähnliche grundlegende Mechanismen in der Einteilung der Welt und Menschen in besser oder schlechter, schwarz oder weiß, gut oder böse zurückgegriffen. Sexismus folgt mit seiner Projektion der als unmännlich geltenden Selbstanteile auf ein feindseliges Frauenbild der gleichen Logik wie die Fremdenfeindlichkeit mit ihrem Bild des bedrohlichen Fremden.
Solche Klischees, Vorurteile und Einstellungen entwickeln sich folglich durch die Einflüsse der Umwelt?
Genau.
Betrachten wir das Ganze aus der Sicht der Opfer. Einer Frau, die belästigt, begrabscht oder bedroht wird, ist es der nicht egal, ob der Täter Deutscher, Amerikaner oder Araber ist? Was macht den Unterscheid bei männlicher Gewalt aus?
In Kulturen und Gesellschaften mit männlicher Vorherrschaft - wie auch immer sie gesellschaftlich, politisch, ökonomisch und sozial zum Ausdruck kommt - ist sexuelle Gewalt ein generell verbreitetes Phänomen in unterschiedlichen Ausprägungen und Auswirkungen.
Neigen Männer an sich, also anthropologisch zu sexualisierter Gewalt?
Männer werden, was diese Gewalt angeht, geprägt, aber nicht in einem anthropologischen Sinne. Das halte ich für ein Gerücht und für ein wissenschaftliches Märchen. Mit dieser These, dass sexuelle Gewalt anthropologisch, evolutionsbiologisch, hirnanatomisch oder neurobiologisch verankert sei, wird sie verharmlost und verklärt. Außerdem enthebt eine solche Behauptung von der Notwendigkeit, sich mit nach wie vor existierenden Ungleichheiten und Hierarchien in den Geschlechterbeziehungen ernsthaft auseinanderzusetzen.
Eine ähnliche Argumentation findet statt in der Debatte um die Schuldfähigkeit von Kriminellen. Wer ist schuld? Die Erziehung, die Gene, die Umwelt?
Das Bedürfnis seine Männlichkeit zu zeigen und zu beweisen, ist tief verankert in Kulturen, in denen Männer eine sehr starke und dominante Rolle spielen. Und das prägt natürlich auch das Unbewusste.
In Japan gibt es das Wort „Chikan“. Gemeint ist damit jemand, der Frauen in Zügen begrapscht. Ein verbreitetes Phänomen.
Das ist ein weiteres Beispiel für die kulturell unterschiedlich ausgeprägten Ausdrucksformen eines ähnlichen Grundmusters in Gesellschaften mit männlicher Vorherrschaft.