Für viele Ostdeutsche waren Sie nach der Wende eine Art Integrationshelfer im geeinten Deutschland. Bis heute können sich viele Ostdeutsche mit Ihnen identifizieren. Sie wiederum können den Osten erklären. Hat Sie diese Rolle auch mal gestört?
Gysi: Nein, es war ja eine bewusste Entscheidung von mir. Vor allem am Anfang wollte ich mit der Partei jenen Teil der Ostdeutschen in der Bundesrepublik vertreten, die kein anderer vertreten wollte. Das waren Millionen DDR-Partei- und Staatsfunktionäre. Die mussten auch einen Weg in die deutsche Einheit finden. Dann kamen die ostdeutschen Eliten hinzu, die ja mit ein paar Ausnahmen ebenfalls nicht vereinigt wurden, etwa aus Kultur und Wissenschaft. Diese ostdeutschen Eliten wollten eigentlich nicht zurück zur PDS. Aber sie wurden in unsere Nähe gedrückt, weil keine Vereinigung stattfand. Der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl erklärte mir später, dass seine West-Eliten das nicht wollten. Ich meinte, er hätte sich darüber hinweg setzen müssen. Aber gut, letztlich kam es nicht dazu. Zudem kam im Osten eine Massenarbeitslosigkeit hinzu, wie es sie im Westen glücklicherweise nie gab. Es entstanden viele Ängste, und wir wurden für diese Menschen zur Kümmererpartei. Dadurch kam uns eine ungeheuer wichtige und sehr spezifische Rolle zu. Inzwischen gibt es sogar CDU-Politiker, die würdigen, dass wir einen wichtigen Beitrag zur deutschen Einheit geleistet haben, weil wir den Menschen im Osten einen Weg dorthin aufgezeigt haben.
Nach der Wende schlug der PDS viel Ablehnung in der bundesdeutschen Öffentlichkeit entgegen. Ist der Blick auf die Linke heute versöhnlicher?
Gysi: Nach wie vor wird unterschieden zwischen der Linken und mir. Ich habe etwas mehr Akzeptanz erreicht als die Linke insgesamt als Partei. Aber wir haben es für die Linke geschafft, dass es inzwischen als normal gilt, dass sie im Bundestag sitzt. Das ist eine gravierende Veränderung. Wir haben Deutschland im europäischen Vergleich insofern normalisiert, als es auch eine linke Partei links von der Sozialdemokratie gibt. Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag hat sich noch etwas verändert: Bei all denen, die gegen die AfD sind, ist die Akzeptanz für die Linke höher. Aber auch bei den anderen Parteien und in den Medien sind wir als politische Kraft akzeptiert. Das war am Anfang keineswegs abzusehen, wenn man an die tiefe Ablehnung der PDS zurückdenkt.
Mit was für einem Gefühl blicken Sie auf den Erfolg der AfD?
Gysi: Es schmerzt mich sehr, dass jetzt im Bundestag eine nationalistische, rassistische Partei sitzt, selbstbewusst, zudem stärker als die Linke – ja, das tut weh.
Welche Strategie empfehlen Sie Ihrer Partei im Umgang mit der AfD? Kann ignorieren oder beschimpfen die Lösung sein?
Gysi: Wir müssen die Gründe ermitteln, warum Menschen AfD wählen. Wenn wir diese Gründe kennen, müssen wir darüber nachdenken, wie man diese Gründe abbauen kann. Wenn Menschen sich als Menschen zweiter Klasse fühlen, suchen einige dann Menschen dritter Klasse, auf die sie herabschauen können. Das sind derzeit meist Flüchtlinge. Wie können wir also beheben, dass sie sich als Menschen zweiter Klasse fühlen? Wie kann man Ängste abbauen, dass Menschen fürchten, etwas von ihrem Besitz zu verlieren? Wir müssen zugleich die Rechtsstaatlichkeit erhöhen. Leute, die schlagen, müssen auch mal für eine kürzere Zeit eingesperrt werden, um ihnen das auszutreiben, statt immer nur Strafe auf Bewährung zu bekommen. Zudem brauchen wir Aufklärung. Man muss den AfD-Anhängern klar machen, dass es ihnen nicht besser geht, wenn sie andere arme Leute bekämpfen. Genau das ist ja ihr Irrtum. Wir müssen in Bildungschancen, in sozialen Aufstieg und zugleich in die Bekämpfung von Fluchtursachen investieren. Wenn uns all das gelänge, hätte die AfD keine Chance mehr.