Die EU will künftig auch höhere Werte bei Stickstoffdioxid tolerieren. Für Dieselfahrer in Ludwigsburg, Heilbronn und Reutlingen ist das gut. Für Stuttgart reicht’s nicht, kommentiert Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Erinnert sich noch jemand an das Champions-League-Finale 1999? Daran, wie Teddy Sheringham und Ole Gunnar Solskjær mit zwei Toren in der Nachspielzeit den Traum des FC Bayern auf die begehrteste Trophäe im europäischen Vereinsfußball zerstört und stattdessen Manchester United auf den Thron gehoben haben? So ähnlich wie einst die kickenden Helden aus Manchester dürften an diesem Mittwoch die Spieler jener politischen Mannschaft gejubelt haben, die gegen Fahrverbote für Euro-5-Diesel kämpfen: Innerhalb von wenigen Minuten schossen sie den Ausgleich, kurz darauf gingen sie in Führung. Gefühlt zumindest.

 

Da begrüßten Ministerpräsident Kretschmann und Stuttgarts Oberbürgermeister Kuhn zunächst die Prominenz aus den Chefetagen namhafter Firmen, um ein Bündnis für Luftreinhaltung zu unterzeichnen – und damit ein wichtiges Signal zu setzen nach dem Motto: Seht her, ihr Leute, wir haben verstanden, dass ihr sauer seid, und wir werden jetzt alles tun, damit ihr wenigstens euren Euro-5-Diesel weiter fahren dürft. Kurz darauf folgte aus Brüssel die Nachricht, dass auch Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer (CSU) erfolgreich war. Die EU-Kommission hat sein Werben für eine „verhältnismäßige“ Auslegung des Grenzwerts von 40 Mikrogramm Stickstoffdioxid pro Kubikmeter Luft erhört. Da künftig auch 50 Mikrogramm toleriert werden, dürften Fahrverbote in knapp darüber liegenden Städten wie Ludwigsburg, Reutlingen und Heilbronn bis auf Weiteres abgewendet sein.

Stuttgart ist weit von den 50 Mikrogramm entfernt

Trotzdem sollte das Bier zur Feier des Siegs im Kühlschrank bleiben. Denn erstens ist zum Beispiel in Stuttgart selbst der „verhältnismäßige“ Grenzwert noch weit entfernt von jenen 71 Mikrogramm, die 2018 gemessen wurden. Zweitens vereint das Kretschmann-Kuhn-Bündnis für bessere Luft bei genauerer Betrachtung nicht mehr als die sattsam bekannten Maßnahmen, die zwar gut sind, aber auch schon eine Weile gelten: Firmenticket für Busse und Bahnen, Angebot zur Heimarbeit, Förderung von Fahrgemeinschaften und Ähnliches. Neue Vorschläge sucht man vergeblich. Drittens ist die Verhältnismäßigmachung eines Grenzwerts noch lange kein Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität. Sie dient nur dazu, den verständlichen Zorn vieler Dieselfahrer auf die tricksende Autoindustrie und die lange untätige Politik zu mindern. Das große Ziel muss aber sein, den Menschen eine Umwelt zu schaffen, in der sie saubere Luft atmen und sich ohne Fahrverbot bewegen können.

Vor diesem Hintergrund hat den wichtigsten Treffer des Tages die Stadt Wiesbaden erzielt. Die hessische Kapitale und die Deutsche Umwelthilfe (DUH) haben sich am Mittwoch auf einen Luftreinhalteplan geeinigt, der unter anderem ein 365-Euro-Ticket für alle Verkehrsteilnehmer enthält. Auf diese Art verhinderten die Streitparteien generelle Fahrverbote in der Stadt. „Tor für Wiesbaden in der Nachspielzeit“, hat DUH-Anwalt Remo Klinger nach dem Abpfiff gesagt – im Wissen darum, dass es in diesem Spiel nur Gewinner gibt.