Die Gesundheitsbehörden erwarten eine Grippewelle und raten vor allem Menschen mit Vorerkrankungen zur Impfung. Eine neue Studie attestiert dem Pieks zwar nur einen schwachen Schutz. Doch Experten verteidigen ihn, weil Alternativen fehlen.

Stuttgart - In Baden-Württemberg wird eine Grippewelle erwartet. Im Vergleich zum Vorjahr registriert das Landesgesundheitsamt ein Vielfaches der Fälle. Die Behörde empfiehlt vor allem Menschen mit Vorerkrankungen, sich impfen zu lassen. Doch während einerseits immer wieder über Impfstoffmangel geklagt wird – wie zurzeit in den USA –, haben amerikanische Wissenschaftler nun andererseits Forschungsergebnisse auf den Tisch gelegt, die zum Nachdenken zwingen: Statt der jahrzehntelang angegebenen Schutzeffektivität von 70 bis 90 Prozent bleibt die Grippeimpfung bei etwa jedem dritten Erwachsenen unter 65 Jahren wirkungslos. Für ältere Menschen fehlen zudem aussagekräftige Daten. Die Forscher behaupten deshalb, die Grippeimpfung sei jahrelang überbewertet und ihr Nutzen übertrieben dargestellt worden.

 

Als die Stiftung Warentest im vergangenen Oktober die Impfung gerade für Ältere für wenig sinnvoll erklärte, konterte das für Infektionskrankheiten zuständige Robert-Koch-Institut in Berlin, die Beurteilung sei „nicht zutreffend und fahrlässig“. Klaus-Dieter Zastrow, Direktor des Instituts für Hygiene und Umweltmedizin am Berliner Vivantes-Klinikum, sieht angesichts der neuen Daten aus Amerika ebenfalls kein Argument dafür, sich nicht impfen zu lassen: „Die Zahl der Grippekranken ist in den vergangenen Jahren stark gesunken. Ich führe das auf die Impfung zurück.“ Auch die Kliniken würden weniger Grippekranke versorgen. „Die Zeiten scheinen vorbei zu sein, das ist eine Wirkung der Impfung.“

Auch Hans-Georg Kräusslich, Direktor der Abteilung für Infektiologie und Virologie an der Universität Heidelberg, untermauert die Wirksamkeit der Impfung und warnt vor einer Auslegung der jüngsten US-Daten, die die „eh schon sehr ausgeprägte Impfmüdigkeit der Deutschen verstärkt“. Zwar sei der Impfschutz geringer als bisher angenommen, aber hoch genug, um ihm Wirksamkeit zu attestieren. Für Patienten mit Grunderkrankungen könne die Grippe schließlich „dramatische Konsequenzen“ haben, betont Kräusslich. Selbst die amerikanischen Wissenschaftler betonen übrigens: Der Piks lohnt sich, weil es an Alternativen mangelt.

Für Senioren gebe es nicht genügend Daten, klagen Experten

Worum geht es dann? Gemäß der neuen Cidrap-Studie der Universität Minnesota verhindert die bisher überbewertete Effektivität der Grippeimpfung die Erforschung anderer, besserer Grippeschutzverfahren. Mit anderen Worten: die Forscher kommen zu dem Ergebnis, dass man sich zu sehr in Sicherheit wiege und damit den Fortschritt ausbremse. Die Studie, die als größte ihrer Art gilt und für die weder staatliches noch privates Geld geflossen sein soll, für die aber 12 000 wissenschaftliche Arbeiten durchforstet und 88 Experten befragt wurden, zeigt: bei nur 59 Prozent der gesunden Erwachsenen zwischen 18 und 64 Jahren ist die Impfung wirksam.

Für Senioren liegen zu wenige aussagekräftige Studien vor, um überhaupt einen Wert angeben zu können. Das klingt paradox, denn gerade älteren Menschen wird die Impfung besonders ans Herz gelegt. Widersprüchlich ist die Datenlage auch für Kinder. Immerhin scheint der erstmals in dieser Saison als Nasenspray verabreichte Lebendimpfstoff für Kinder zwischen dem sechsten Monat und dem siebten Lebensjahr zu rund 83 Prozent zu schützen.

Zweifel an der Wirksamkeit der Grippeimpfung säte bereits eine 2010 veröffentlichte Studie der Cochrane-Collaboration, eines internationalen Netzwerks unab- hängiger Wissenschaftler und Ärzte. Danach hat die Grippeimpfung weit weniger Nutzen als allgemein propagiert: Im Durchschnitt verkürzt sie die Erkrankung nur um einen halben Tag. Die Zahl derjenigen Personen, die sich wegen der Grippe im Krankenhaus behandeln lassen müssen, verringert sich durch die Impfung gar nicht. Auch Komplikationsraten werden durch die Impfung nicht gesenkt. Um einen einzigen Grippefall zu verhindern, müssten zwischen 33 und 99 Personen geimpft werden, betont der britische Cochrane-Autor Tom Jefferson.

In der letzten Saison lag die Wirksamkeit bei 49 Prozent

Die Zahl lässt sich nicht präziser angeben, weil die Wirksamkeit der Impfung von der jeweiligen Zusammensetzung des Impfstoffs abhängt, die sich von Jahr zu Jahr ändert. Die Hersteller entwickeln die Stoffe gegen die Virenstämme auf der Basis von Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der europäischen Arzneimittelagentur (EMA). Bereits im Februar setzen sich die Fachleute zusammen und beraten über die Virenstämme der kommenden Grippesaison. Mal gelingt die Vorhersage gut, mal weniger gut.

Die Grippeimpfung wurde in den 40er Jahren eingeführt. Experten empfehlen sie nicht als einzige Schutzmaßnahme, sondern raten auch, häufig die Hände zu waschen. Erkrankte ältere Menschen sollten zudem Kontakt mit ihren Enkelkindern vermeiden. Die Wirksamkeit der Impfung allein wurde lange mit 70 bis 90 Prozent angegeben. Das war aber wohl zu hoch gegriffen. Auch das Robert-Koch-Institut gibt für Deutschland die Wirksamkeit in der Saison 2011/12 mit nur durchschnittlich 49 Prozent an. Damit lag die Impfeffektivität zwar etwas über dem Durchschnitt von acht europäischen Ländern (43 Prozent), war aber dennoch „geringer als erwartet“. Als Gründe werden die „eingeschränkte Übereinstimmung“ zwischen zirkulierendem Grippevirus und Impfstamm einerseits und eine im Vergleich zu den Vorjahren verspätet einsetzende Grippewelle andererseits vermutet, wodurch sich die Immunität durch die Impfung schon wieder abgeschwächt hätte.

Trotz der enttäuschenden Effektivität empfiehlt das Institut die Impfung als „wichtigste Säule in der Influenzaprophylaxe“. Jeder könne sein persönliches Risiko, an einer Influenza zu erkranken, „erheblich verringern“. Bei Geimpften verlaufe eine Erkrankung zudem „in der Regel auch milder, das heißt ohne Komplikationen“. Eine Reduktion der Komplikationen hat die Cochrane-Studie vor zwei Jahren, für die 50 wissenschaftliche Arbeiten mit rund 70 000 Patienten analysiert wurden, aber nicht gefunden. Und die Autoren schätzen ihre Studie als eher optimistisch ein, da ein guter Teil der Daten mit Geldern der Industrie erhoben wurde.