Die Wahl, die Theresa May ohne Not angesetzt hatte, wird für die britische Premierministerin zum Albtraum.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Es war, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Als hätte es nie Wahlen gegeben, kein finsteres Drama, keine Tragödie in der Nacht. Als Theresa May am Freitagmittag um halb zwei vor das mittlerweile wohlbekannte Podium in der Downing Street trat, erwähnte sie mit keinem Wort den Albtraum, den sie wenige Stunden vorher durchlebt hatte und der sich nur in den starren Zügen ihres Gesichts noch spiegelte. Sie habe, erklärte sie ganz einfach, eine neue Regierung gebildet und Ihre Majestät pflichtschuldigst davon unterrichtet. Für „Gewissheit“ im Lande werde sie nun weiter sorgen, „damit die Nation sich sicher weiß“. Sie werde islamistischen Extremisten entschlossen die Stirn bieten und Britannien mit fester Hand durch den Brexit geleiten. Schließlich wolle sie ja nur den „Volkswillen“ erfüllen – künftig in Zusammenarbeit mit Nordirlands Demokratischen Unionisten (DUP). „Und nun wollen wir an die Arbeit gehen!“, sagte sie abschließend, ehe sie, ihren Gatten Philip im Schlepptau, zurück durch die schwarze Tür von No 10 stelzte.

 

„No surrender“, pflegte Nordirlands Unionisten-Führer Ian Paisley in solchen Momenten immer grimmig auszustoßen. „Wir geben nicht auf.“ Kein Wort darüber, dass sie just ihre absolute Mehrheit im Unterhaus verloren hatte. Ganz unnötig verloren, übrigens. Weil noch drei Jahre Zeit gewesen wäre bis zu den nächsten Wahlen. Die vorgezogenen Wahlen hatte sie ausgeschrieben, weil sie glaubte, übers Wasser gehen zu können. Das tat sie dann aber nicht, sondern sie brach ein.

So hatte sich das Theresa May nicht vorgestellt

Der Labour-Führer Jeremy Corbyn, der unerwartet viele Wähler begeisterte, kassierte jede Menge Mandate der Torys. Zwar landete Corbyn nur auf Platz zwei, aber Theresa May, die sich hatte einreden lassen, sie werde ihn „vernichten“ und 150 zusätzliche Sitze holen, steht trotzdem als Verliererin da.

Die Nacht, die Theresa May wohl am liebsten vergessen würde, hatte am Donnerstag Punkt 22 Uhr begonnen, mit dem Schlag von Big Ben und der Schließung der Wahllokale. Auf allen Bildschirmen der Nation gleichzeitig leuchteten die „Exit Polls“ auf. 314 Sitze für die Torys, war da zu lesen. Mit 330 war sie ins Rennen gegangen, 326 hätten für eine Mehrheit gereicht, 318 waren es schließlich (ein Wahlbezirk fehlte bei Redaktionsschluss noch).

So hatte sich Theresa May das nicht vorgestellt, als sie im April diese Wahlen angesetzt hatte. Kabinettskollegen wie Brexit-Minister David Davis und Schatzkanzler Philip Hammond hatten sie dazu gedrängt, drei Jahre früher als geplant an die Urnen zu gehen. Von Davis war in der Nacht der großen Abrechnung wenig, von Hammond gar nichts zu hören. Am Ende war May mit der Verantwortung allein.

Höhere Wahlbeteiligung als 2015

Der zweite Schock, der sie traf, kam nicht viel später. Plötzlich zogen nämlich vor Corbyns bescheidenem Haus im Londoner Stadtteil Islington zwei Polizisten mit Maschinenpistolen auf. „Die waren vor einer Stunde noch nicht da“, meinte trocken ein Kommentator. Zeichnete sich da etwas ab? Wusste man bei Scotland Yard mehr, als man zugeben wollte? Der für die Konservative Partei „lachhafte“ Corbyn wurde plötzlich wie ein potenzieller Regierungschef behandelt.

Im weiteren Verlauf der Nacht folgte für May eine Hiobsbotschaft nach der anderen. Immer mehr Tory-blaue Wahlkreise färbten sich rot. Die Wahlbeteiligung lag höher als 2015, auch wegen vieler junger Labour-Wähler. „Dies sind die Wahlen, bei denen junge Leute erstmals angefangen haben zu wählen“, war auf einem Fernsehsender zu hören. „Da werden wir ja ein interessantes Parlament haben“, fügte spöttisch der Tory-Abgeordnete Ken Clarke an.

„Sie hats’ vermasselt!“

Clarke ist ein europhiler Ex-Schatzkanzler Margaret Thatchers und der einzige Tory, der auch gegen Mays Willen unbekümmert und couragiert für Britanniens EU-Mitgliedschaft stimmt, wenn ihm danach zumute ist. Zum Ausgang der Wahlen sagte Clarke: „Ausgerechnet jetzt passiert das, wo wir an einem kritischen Punkt im Brexit-Prozess sind.“

Vom einem „hung parliament“, einem Unterhaus ohne absolute Mehrheit, war schon früh die Rede. So ein Parlament gibt es, wegen des Mehrheitswahlrechts, nicht oft. Die ersten Nachtausgaben der Zeitungen begannen einzutrudeln und alarmiert oder freudig davon zu sprechen, dass Mays Schicksal „an einem Faden“ hänge.

Wichtige Regierungsmitglieder verloren ihre Sitze

Anderntags hatte die gesamte Rechtspresse ihre bis dahin geübte Ehrerbietung gegenüber der Regierungschefin vergessen und wütend erklärt: „Sie hat’s vermasselt! Sie hat total versagt!“ Wichtige Regierungsmitglieder wie Ben Gummer verloren im Lauf der Nacht ihre Sitze. Gummer war – peinlich genug – der Autor von Mays Wahlprogramm. Von da an ging es rapide abwärts. Das Pfund fiel, und die ersten Oppositionspolitiker begannen, ihren Kopf zu verlangen. Für Theresa May wurde die Situation äußerst unangenehm. Ihr eigener Handelsminister Liam Fox weigerte sich, sie zu verteidigen.

Die Wettquoten für Außenminister Boris Johnson sanken von 66:1 auf 5:1 – weil plötzlich alle von „Boris“ als ihrem Nachfolger redete. Um zwei Uhr nachts erklärte der Ex-Ukip-Chef Nigel Farage, er stehe, weil die Torys solchen Brexit-Mist gebaut hätten, nun wieder für die rechtspopulistische Partei bereit. Als Paul Nuttall das hörte, gab er den Ukip-Vorsitz prompt ab.

Corbyn forderte den Rücktritt von May

Eine Stunde später forderte Jeremy Corbyn in seinem Nordlondoner Wahlkreis Islington den Rücktritt von Theresa May. Wenige Minuten später musste sich May in ihrem Wahlkreis Maidenhead der Öffentlichkeit zeigen. Bleich, mit versteinertem Ausdruck und gänzlich monoton wiederholte sie nur immer wieder: „Was unser Land jetzt braucht, ist eine Periode der Stabilität und der Ruhe.“

Um halb sechs Uhr morgens entschied die BBC, dass Theresa May beim besten Willen keine Mehrheit mehr zusammenbekommen würde. Freund und Feind waren sich nunmehr darin einig, dass diese Neuwahl für May „eine echte Katastrophe“ war. Wenig später hatte sie sich mit Beratern und ein paar Ministern im Tory-Hauptquartier eingeschlossen, um herauszufinden, ob ihr Schicksal besiegelt wäre.

Kritik prallte an May ab

Aber die Parteispitze fürchtete offenbar einen mehrmonatigen Kampf um den Vorsitz mehr als den Verbleib Mays im Amt, auch wenn man sie in den Morgenstunden des Freitags als „hoffnungslos beschädigte Ware“ einstufte. Und glücklicherweise bot sich Ian Paisleys alte Partei, die DUP, als neue Stütze der Premierministerin an. Ein DUP-Politiker hatte ihr aus Nordirland schon zu Beginn der Nacht eine entsprechende Botschaft übermittelt.

Wenig später stand nach Geheimverhandlungen ein Deal zwischen Torys und DUP. Welches die Details der Verabredung waren, wollte allerdings niemand enthüllen. Niemand mochte auch auf den Einwand eingehen, dass der nordirische Friedensvertrag von 1998 eine solche Bevorzugung einer Seite – der britischen Protestanten vor den irischen Katholiken – verbietet. Wichtig war für Theresa May, dass sie in den Buckingham-Palast zur Königin fahren konnte, um sich einen neuen Auftrag zur Regierungsbildung zu holen, bevor Jeremy Corbyn auf eine entsprechende Idee kam. Die Kritik prallte an ihr ab. Nach dem Albtraum gab es für sie nur eines: „Nun wollen wir an die Arbeit gehen!“