Zwischen Terror und Wahlkampf – wie ist die Stimmung in Großbritannien vor der Parlamentswahl an diesem Donnerstag? Eine Fahrt von London über die Nordseeküste bis in die Midlands zeigt ein gespaltenes Land.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

Hartlepool/London -  Noch immer flattern Absperrbänder vor einem Pub, noch immer legen Menschen Blumen nieder. Die Spuren der Terrorattacken sind überall präsent. Acht Menschen sind bei den Anschlägen am Samstag getötet worden, am Dienstagabend hat die britische Polizei bei der Suche nach einem seit den Anschlägen vermissten Mann in der Themse eine Leiche gefunden. Fast 50 weitere Menschen waren verletzt worden. Und die Briten fragen sich: Hätte der Terroranschlag vermieden werden können? Die drei Attentäter waren Berichten zufolge den Behörden bekannt.

 

An diesem Donnerstag wird auf der Insel ein neues Parlament gewählt. Premierministerin Theresa May und ihr Herausforderer Jeremy Corbyn wollen mit dem Thema innere Sicherheit auf den letzten Metern noch punkten. Der Ton wird rauer. Doch wird das die Wahl entscheiden? Oder geht es doch um Pflegkosten, Bildung und Brexit. Die Stimmung im Land ist gespalten.

Weitab von Westminster ist Hartlepool zu finden. 400 Kilometer etwa sind es zur Küste hinauf. Aber Welten liegen zwischen der Stadt im englischen Nordosten, die befürchtet, ihre beste Zeit hinter sich haben, und dem Sitz des britischen Parlaments. Zumindest kommt es den Bewohnern Hartlepools so vor. „Die haben doch keine Ahnung, was hier vor sich geht, was uns bewegt“, meinen zwei Hafenarbeiter. „Aufschwung? Höhere Löhne? Bessere Krankenhäuser? Alles leere Versprechen“, sagt ein Dritter. „Am besten wählt man überhaupt keine Partei mehr.“

Warum gibt es überhaupt Neuwahlen und was wird May vorgeworfen? Die wichtigsten Fragen und Antworten haben wir in einem Video-Überblick zusammengefasst:

Jeder zehnte in Hartlepool ist ohne Job.

Mit Sorge schaut die oppositionelle Arbeiterpartei Labour nach Hartlepool, auf eine ihrer Bastionen in Nordengland. Erstmals seit mehr als einem halben Jahrhundert droht der Wahlkreis an die Konservativen zu fallen. Viele erwägen bei den diesjährigen Wahlen zu Hause zu bleiben – oder sogar zur „Gegenseite“ überzulaufen. Sie haben von Labour genug. Viele glauben, dass nur Tory-Premierministerin Theresa May ihnen den „klaren Brexit“ garantiert, den sie wollen. Immerhin haben 70 Prozent der Leute in Hartlepool voriges Jahr für die Abkoppelung von der EU gestimmt. An rebellischem Potenzial fehlt es in Hartlepool nicht.

Bereits in den 60er Jahren war der mächtige Schiffsbau in der Stadt ins Knie gebrochen. Dass nun im Hafen in Hartlepool ausgediente Ölplattformen angeschleppt werden, um abgewrackt zu werden, bietet nur begrenzten Trost. Was die Leute täglich erleben, ist der Niedergang ihrer Stadt. Zum Beispiel den Anstieg der Kriminalität im Stadtbereich oder die Schließung der Notaufnahme ihres Krankenhauses. Jeder zehnte in Hartlepool ist ohne Job. Auch Jeremy Corbyn, den jetzigen Parteivorsitzenden, mögen viele angestammte Labour-Wähler nicht besonders. Er repräsentiere doch auch nur die „großstädtische Clique im Süden“.

In der Unistadt Cambridge hoffen die europafreundlichen Liberaldemokraten, dagegen ein Zeichen zu setzen. Colleges und Hightech-Sektor stemmen sich entschieden gegen die britische Abkoppelung von der EU. Es ist ein warmer Abend am River Cam. Studenten und Touristen ziehen durch die Stadt. Sprachen aus aller Herren Länder sind in versöhnlichem Einklang zu hören. Kommt man von Hartlepool, glaubt man sich auf einem anderen Stern.

Cambridge hat Angst vor dem Brexit

Weltoffen und selbstbewusst schaut Cambridge in die Zukunft. Drei Viertel der Wähler in Cambridge haben im Vorjahr für Verbleib in der EU, also gegen Brexit, gestimmt. Jeremy Corbyn ist hier beliebt. „Er ist der Einzige, der sich nicht einschüchtern lässt, der für sozialen Wandel eintritt, der keine Atomwaffen mehr bauen möchte“, sagt eine junge Frau. Corbyn, fügt ihr Freund, ein schlaksiger Wollmützenträger mit Bierfläschchen in der Hand, hinzu, wolle „echte Veränderung“. Er halte an seiner Vision einer besseren Gesellschaft fest.

Das Fünftel der Wähler, das der Uni zuzuzählen ist, fürchtet vom Brexit Einbußen der eigenen Freizügigkeit in Europa, ernste Rekrutierungsprobleme für den Lehrkörper, den Verlust gigantischer Summen für Forschungsvorhaben und generell einen gefährlichen Niedergang des guten akademischen Renommees von Stadt und Nation.

Nach Westen hinüber geht die Fahrt, ins Herz der West Midlands nach Birmingham. Eine feste Burg ist Fort Dunlop dort – ein Signal an die Welt. Von der Autobahn M6 aus sieht man auf den Hügeln die Türme, die Zinnen, die riesigen Buchstaben. 1917 wurde Fort Dunlop eröffnet. Hier wurden einmal die berühmtesten Gummireifen der Welt produziert. Das Werk war eine Zeit lang sogar eine der größten Fabriken auf Erden. Es war immer ein Symbol industrieller Stärke Großbritanniens. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen hier 10 000 Arbeiter in Lohn und Brot – bevor Importautos vom Kontinent das Geschäft zu unterhöhlen begannen.

Doch längst ist das Unternehmen verkauft. Der Käufer Urban Splash hat das Gelände in ein Einkaufszentrum mit Hotel und Kleinbetrieben umgemodelt. Vor drei Jahren hat die Fabrik endgültig zugemacht. Teile des Werks hat man nach Frankreich und Deutschland verfrachtet. Freundliche Gefühle für „die Europäer“ hat das nicht gerade aufgerührt. „Ist das verwunderlich“, fragt ein grauhaariger Lieferwagenfahrer namens Joe, der im McDonald’s um die Ecke von Fort Dunlop ein Sandwich verzehrt. „Hier haben auch die meisten letztes Jahr für Brexit gestimmt.“

Corbyn holt auf

In Birminghams Stadtteil Erdington, in dem Fort Dunlop steht, trauert man noch immer um diese britische Legende. Vor allem aber um die Jobs, die mit ihr verloren gegangen sind, denn für Erdington war das Ende Dunlops eine soziale Katastrophe. Im Lauf der letzten Jahre haben fast alle besseren Geschäfte geschlossen. Schlendert man jetzt durch Erdingtons alte Hauptstraße, stößt man auf leer stehende Läden, auf karitative Sammelstellen, auf Billigmärkte jeglicher Art. Bei einem Modegeschäft schauen selbst die auf die Straße geschobenen Schaufensterpuppen bedrückt in die Gegend. Vor einer hebt ein frei laufender Pitbull Terrier verächtlich das Bein. „Es gibt“, meint Judith, eine freundliche Seele, die für die hiesige St Barnabas Church arbeitet, „viel Elend hier.“

Vier Prozent der Bewohner Erdingtons sollen polnischer Zunge sein – aber viele sind seit dem Brexit-Beschluss wieder abgereist. Kirchen, Verbände und Politiker vor Ort suchen alle Kulturen zu integrieren.  Doch unzufriedene Bürger wollen den Zustrom an Immigranten endlich begrenzt sehen und die Zugbrücken hochklappen.

An Orten wie diesen wird die Wahl entschieden. Doch noch scheint nichts entschieden zu sein. Jeremy Corbyn hat in den Umfragen den Rückstand gegenüber der konservativen Regierungschefin Theresa May kontinuierlich verringert. Bis vor Kurzem galt er als krasser Außenseiter, doch nach den Anschlägen in Manchester und London konnte Corbyn die Premierministerin in der Sicherheitsdebatte in die Defensive zwingen. Für ihn kommt es nun darauf an, dass er seine Anhänger mobilisieren kann. Die Terrordebatte ist seine Chance.