Der Abschied von der Europäischen Union am kommenden Freitag wird von den EU-Gegnern in London groß gefeiert. Davon fühlen sich allerdings Austrittsgegner gehörig provoziert. Immerhin: Big Ben wird zum Bedauern der Brexiteers nicht läuten.
London - Am Freitag um 23 Uhr britischer Zeit verlässt das Vereinigte Königreich die Europäische Union. Den Brexiteers ist es egal, wie der anderen Hälfte der Bevölkerung zumute ist. Partys, Lichter- und Singshows sind geplant, um den Abgang aus der EU zu bejubeln. Allein auf Westminster Square, dem Platz, auf dem sich fast vier Jahre lang Pro- und Antieuropäer mit ihren Megafonen drängten, soll es hoch hergehen in der Nacht zum Samstag. Zehntausende werden zu einer Veranstaltung erwartet, die Nigel Farage, der Erz-Brexiteer, zusammen mit Gleichgesinnten organisiert hat.
Vor dem Parlament soll getanzt und gesungen, sollen Union Jacks geschwungen und Ansprachen gehalten werden. Gäste sollen Ruhmeslieder zu Ehren des Brexits vortragen. Musikkapellen und Komödianten sind eingeladen. 100 000 Pfund soll das Ganze kosten. „Gut gelaunt“ und „optimistisch“ soll die Brexit-Party laut Farage werden: „Und ganz und gar ohne politische Tendenz.“ Letztere Behauptung nimmt ihm kaum jemand ab. In einer gespaltenen Bevölkerung stößt das Verlangen der Hardliner nachr Feierlaune und nationalem Glockengeläut auch auf Ablehnung. Schließlich hätten beim Referendum 2016 „zwei Drittel der Bevölkerung gar nicht für den Brexit gestimmt“, so der Bischof von Buckingham, Alan Wilson. „Die Kirchenglocken für so etwas zu läuten würde uns nur weiter entzweien.“ Es gehe nicht an, dass „eine politische Fraktion triumphieren will über die Leute, die sie geschlagen hat“.
„Salz auf die Wunden der Proeuropäer“
Der frühere konservative Vizepremier Lord Heseltine sprach davon, die Brexiteers suchten mit ihren Feiern nur „Salz auf die Wunden der Proeuropäer zu streuen“. Zur Farce geriet die Forderung des Tory-Abgeordneten Mark Francois, eines prominenten Nationalkonservativen, der Glockenturm über dem Parlament, Big Ben, müsse „die neue Freiheit“ einläuten. Dazu hätte der gerade im Umbau befindliche Glockenstuhl für Hunderttausende von Pfund speziell hergerichtet und der Umbau gestoppt werden müssen – für eine Minute Glockenschlag. Premier Boris Johnson hielt es noch vor Wochen für denkbar, dass eine private Spendenaktion das nötige Geld aufbringen könnte. Konkrete Pläne hatte er nicht. Als die Parlamentsbehörde abwinkte, erwiesen sich die schon eingegangenen Spenden als nutzlos. Johnson hätte die Parlamentsverwaltung „zwingen“ sollen, Big Ben zur Verfügung zu stellen, murrte Francois. Farage meinte: „Es ist fast, als schäme sich die Regierung für den Brexit.“
In aller Eile stellte der Regierungschef ein Alternativprogramm auf die Beine. Nun sollen am Freitag öffentliche Gebäude in Blau-Weiß-Rot angestrahlt und an der Prachtstraße der Mall, hinauf zum Buckingham-Palast, Fahnen aufgezogen werden. Johnson will in der Downing Street eine Ansprache halten. Vor der Regierungszentrale wird eine Uhr installiert, die die letzten Minuten bis 23 Uhr, bis zum Austrittszeitpunkt nach britischer Zeitrechnung, herunterzählt. Ebenfalls am Freitag beginnt man mit der Ausgabe von drei Millionen Sondermünzen, die sich für „Friede, Wohlstand und Freundschaft mit allen Nationen“ aussprechen.
Riesige Schilder auf den Klippen von Dover
Wenigstens, meinen Londoner Regierungsbeamte erleichtert, stehe der Münzausgabe diesmal nichts mehr im Wege. Noch im letzten Herbst, als Johnson sein Leben für einen Brexit am 31. Oktober verpfändete, hatte eine halbe Million bereits gefertigter Münzen wieder auf Kosten des Steuerzahlers eingeschmolzen werden müssen, als es zum Austritt nicht kam. Leidenschaftliche Brexit-Gegner haben derweil geschworen, die neuen 50-Pence-Münzen nicht anzurühren. Die Gefühlswoge, die der Brexit ausgelöst hat, ebbt fürs Erste nicht ab.
An den Klippen von Dover, dieser symbolischen Stelle Englands, dürfte das am deutlichsten abzulesen sein am Brexit-Tag. Proeuropäer wollen dort ein riesiges Schild aufstellen mit der Aufschrift „We still love EU“. Die Brexiteers wollen kontern mit einem noch gigantischeren Schild mit den Worten: „We love the UK“.