Stück für Stück nähern sich Union und SPD ihrer großen Koalition. Es gibt erste Ergebnisse und seltene Einblicke: Die SPD putzt sich für die Union heraus, und CDU-Chefin Merkel schaut zu Willy Brandt auf.

Berlin - Drinnen wird Angela Merkel erst einmal zu Willy Brandt geführt. SPD-Chef Sigmar Gabriel erläutert der Kanzlerin im lichtdurchfluteten Atrium die 3,40 Meter hohe Bronzefigur des ersten sozialdemokratischen Kanzlers der Bundesrepublik. Unweigerlich muss man nach oben schauen. „Sie kennen sich ja aus“, sagt Gabriel zu Merkel, die in der SPD-Zentrale schon 2005 zu Koalitionsverhandlungen war. Dann geht es am Mittwoch in die Gespräche über die zweite große Koalition unter ihrer Kanzlerschaft.

 

CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt ist hingegen erstmals im Willy-Brandt-Haus. Er witzelt beim Reingehen: „Ich glaube, man muss mental jetzt sehr stark sein.“

In nur einer Woche Koalitionsverhandlungen hat sich etwas verändert: Die Stimmung ist gut, Vorurteile werden abgebaut. Beispiel: Elke Ferner. Die SPD-Fraktionsvize hatte nach der Wahl gesagt, sie bekomme Pickel beim Gedanken an eine große Koalition. Nun weiß sie: „Manchmal relativieren sich Vorstellungen.“ Oder SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles. Sie betont mit Blick auf die Gäste: „Wir haben extra die Fenster geputzt, da lassen wir uns nicht lumpen. Ein bisschen mehr Blumenschmuck haben wir auch.“ Und CDU-Vize Julia Klöckner sagt: „Jetzt sind wir ja alle Freunde.“

Das dicke Ende mit dem Streit um Steuererhöhungen, den Mindestlohn und die Finanzierung einer höheren Rente für Mütter von vor 1992 geborenen Kindern kommt zwar erst noch. Bei den unstrittigen Themen gibt es nun aber bei der zweiten großen Runde mit rund 75 Verhandlern erste Ergebnisse. „Ein guter Start in eine gute Koalition beginnt erst einmal mit dem, was man gemeinsam stemmt“, sagt Bundestagsvizepräsident Peter Hintze (CDU). Er ist auch Vizepräsident der Europäischen Volkspartei (EVP) und meint: „Die Europapolitik ist der Eckstein für das Koalitionsgebäude.“

Gemeinsam will man die auf EU-Ebene stockenden Beratungen über die Einführung einer Steuer auf Finanztransaktionen beschleunigen, die EU-Kommission soll zudem keine Privatisierung der Wasserversorgung in Deutschland verfügen dürfen. Noch unklar ist, wie die Einnahmen der Mitgliedsstaaten aus einer solchen Steuer verwendet werden könnten - die SPD pocht auf deutliche Mehrausgaben zur Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in Ländern wie Spanien und Griechenland.

Das SPD-Ziel eines EU-Beitritts der Türkei teilt die Union nicht

Der Präsident des Europaparlaments, Martin Schulz (SPD), kündigt trotz der Einigkeit in vielen Europafragen und des Bemühens um eine große Koalition an, dass Union und SPD im Wahlkampf für die Europawahl im Mai Konkurrenten sein werden. Das habe die Debatte „in einigen Punkten geprägt“. Man könnte auch sagen: getrübt.

Bei der dritten großen Runde am kommenden Dienstag sollen als nächstes Entscheidungen zu Wirtschaft und Außenpolitik fallen. Annäherungen in den Arbeitsgruppen gibt es bei der doppelten Staatsbürgerschaft etwa für in Deutschland aufgewachsene Türken. Hier hat sich die Union bewegt. Das SPD-Ziel eines EU-Beitritts der Türkei teilt sie aber nicht. Strittig ist auch der CSU-Wunsch nach einer Pkw-Maut für Ausländer. Beim Thema Mindestlohn will die SPD nur eine Koalition eingehen, wenn es ohne Abstufung bundesweit 8,50 Euro gibt.

Als erste Einigung im Arbeitsmarktbereich soll mehr Branchen der Weg zu tariflichen Mindestlöhnen geebnet werden. Das Entsendegesetz soll für jede Branche geöffnet werden, in der die Tarifpartner dies wollen. Bisher war es Sache der Regierung, die Branchen festzulegen, für die es individuelle Lohnuntergrenzen geben soll. Union wie SPD betonen, das sei keine Vorentscheidung für einen gesetzlichen bundesweiten Mindestlohn. Aber so eine Autonomie schwebt der Union auch hierbei vor: dass eine unabhängige Kommission selbst die Höhe eines Mindestlohns festlegt - und nicht der Gesetzgeber.

Auch wenn diese zweite von insgesamt zehn großen Runden noch nicht den großen Wurf bringt, der Motor ist angeworfen. So stellt Merkel in den Verhandlungen im Willy-Brandt-Haus laut Teilnehmern fest: „Wir haben die Arbeitsmaschine ins Laufen gebracht.“