Meisterwerke aus aller Welt wurden zusammengetragen für die fulminante Sonderschau zu Henri Matisse. Seine Kunst macht glücklich. Aber ist das alles?
Gäbe es ein Ranking, welcher Künstler in den meisten Arztpraxen hängt, wäre Matisse ein aussichtsreicher Anwärter. Besonders dort, wo vor allem Frauen ein und ausgehen, sind seine farbkräftigen Akte beliebt. Bei Matisse ist man immer auf der sicheren Seite, es ist renommierte Kunst – und trotzdem schön anzuschauen.
Deshalb lohnt sich die Reise nach Riehen bei Basel in jedem Fall, wo die Fondation Beyeler nun eine große Matisse-Ausstellung eröffnet hat mit Leihgaben aus der ganzen Welt – Stillleben mit viel Blau und Interieurs mit raffinierten Mustern auf Teppichen. Es gibt zahllose Frauen, die genüsslich auf dem Diwan herumlümmeln oder dem Maler nackt Modell saßen. Und wenn man zum Abschluss den großen Saal mit den berühmten Scherenschnitten durchschreitet, wird einem ganz wohlig ums Herz. Denn die Kunst von Matisse tut einfach gut.
Er war ein Reisender, stets auf der Suche nach Lichteindrücken
So war es fast ein Wink des Schicksals, dass dieser junge Mann, der sich als Anwaltsgehilfe verdingte, plötzlich eine böse Blinddarmentzündung bekam. Tagelang war Henri Matisse ans Bett gefesselt und vertrieb sich die Zeit mit Zeichnen. Ein Jahr später gab er seine Karriere als Jurist auf und ging nach Paris. Nachdem er das erste Mal durch die Prüfung gefallen war, konnte er schließlich doch Kunst studieren. Nach Jahren schwerer Krisen stieg sein Marktwert dann auch schon stetig an. In der Fondation Beyeler stellt man schnell fest, dass sich auch Matisse als junger Maler erst einmal ausprobierte. Eine schön gedeckte Tafel, an der eine Frau noch eben die Blumen zurechtrückt, ist luftig im Stil der Impressionisten dahingeworfen. Das Porträt einer gewissen Carmelina 1903 überrascht dagegen mit ungewohnter Strenge. Und dann setzt er in wahrer Fleißarbeit zahllose Striche nebeneinander, wie es die Pointillisten tun.
Und doch steckt in jedem dieser Versuche schon ein Stück von dem, was ihn später weltberühmt macht. In Saint-Tropez fängt er auf einer Terrasse aufs Köstlichste den warmen Sommer ein. Das ist, was Matisse am meisten reizt: das Licht. Er wurde 1869 im Norden Frankreichs geboren, und als er nach Nizza zieht, ist er überwältigt. „Als mir bewusst wurde, dass ich jeden Morgen dieses Licht wieder sehen werde, konnte ich mein Glück nicht fassen.“ Und doch treibt es ihn weiter: „Wie mag das Licht auf der anderen Seite der Hemisphäre sein?“
So wurde Henri Matisse zu einem Reisenden, den es nach Nordafrika trieb, in die USA und schließlich die Südsee. Deshalb heißt die Ausstellung in der Fondation Beyeler auch „Einladung zur Reise“, wobei es nicht die fremden Länder und Menschen waren, die Matisse als Maler interessierten, sondern die Farben und Formen. Ob Frauen oder Pflanzen, er behandelte sie auf der Leinwand nicht anders als die Muster von Tapeten, Tischtüchern und Teppichen.
Das Leben meinte es keineswegs nur gut mit Henri Matisse. Er war von Ängsten getrieben und hatte private Probleme. Als er 1912 in Tanger war, gab es Unruhen; 1914 brach der Erste Weltkrieg aus. Die harte Realität wollte er bewusst aus der Kunst heraushalten, er schuf stattdessen freundliche Gegenwelten. Wohlig umfängt einen das sommerliche Savoir-vivre, wenn er aus dem Fenster heraus tanzende Boote malte oder Frauen, die sich im Zimmer beim Mittagschlaf von der Hitze erholen.
Dreidimensionalität wischt Matisse salopp fort
Neben der Schönheit dieser Oberflächenreize ist es doch kühn, wie nachlässig Matisse die Wirklichkeit ins Bild holte. Da hängt ein Regal unmotiviert in der Luft. Goldfisch und Skulptur müssen auf einen Tisch, den man doch vergeblich sucht. Räume werden hier zu Flächen, die Dreidimensionalität, die sich Künstler Jahrhunderte zuvor so mühsam erarbeitet haben, wischt Matisse salopp fort, um die Motive auf ganz neue Weise ins Bild zu rücken.
1941 ist Matisse nach einer Krebsoperation ans Bett gefesselt. Er schneidet aus bunt bemalten Papieren Formen aus, die seine Assistentinnen aufhängen müssen. Und wenn man ihn in einem alten Filmausschnitt sieht, wie behände er mit der Schere hantiert, verrät das sein sicheres ästhetisches Empfinden. Gerade die Scherenschnitte sind in höchster Perfektion komponiert und bringen Formen und Konturen mit minimalem Einsatz auf den Punkt – reduziert, radikal und hoch dekorativ.
Weltflucht wurde dem Maler, der 1954 starb, mitunter vorgeworfen. Selbst in der Südsee war er nicht am Leben der Menschen interessiert, sondern nur an Formen, Farben und eben dem Licht. In Tahiti sei das Licht „reine Materie“, notierte er verzückt, das sei „großartig und langweilig zugleich“. Diese Feststellung lässt sich letztlich auch auf seine Kunst übertragen.
„Matisse – Einladung zur Reise“ in der Fondation Beyeler
Geniekult
Obwohl Matisse auch finanziell nicht immer gut gestellt war, unterstützt seine Familie eine Art Geniekult, saßen ihm kostenlos Modell und richteten sich nach seinen Wünschen. Um die Konzentration des Künstlers nicht zu stören, mussten die Kinder beim Essen schweigen.
Ausstellung
„Matisse – Einladung zur Reise“ ist bis 26. Januar in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel zu sehen und täglich von 10 bis 18 Uhr geöffnet, mittwochs bis 20 Uhr.