Familie umgebracht, die Stadt in Brand gesteckt, Christen verfolgt, Sex and Crime: Der römische Kaiser Nero hat eine lange Liste an Schreckenstaten auf dem Kerbholz. Doch was davon ist nur Mythos und üble Nachrede interessierter Kreise? Ein großartiges Ausstellungsprojekt in Trier bringt Licht ins Dunkel.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Trier - Ganz schön heftig, was man in gerade mal dreißig Lebensjahren so alles anstellen kann: sich auf Umwegen den römischen Kaisertitel schnappen, Mutter, Stiefbruder und Stiefschwester ermorden (mit Letzterer war man zuvor verheiratet), gleich die nächste Gattin auch ermorden, Hauslehrer in den Selbstmord treiben, Rom in Brand stecken, Rom wieder aufbauen (nebst Palast und Kolossalstatue von sich selbst), Christen verfolgen, auf einer Griechenlandreise trotz Leibesfülle alle olympischen Wettbewerbe gewinnen (offiziell jedenfalls) – und dann auch noch heroisch den Selbstmord wählen, bevor man Häschern in die Hände fällt. Klingt unwahrscheinlich? Nun, zwischen dem 15. Dezember des Jahres 37 und dem 9. Juni des Jahres 68 hat Nero all dies erlebt. Und wer wissen will, ob es auch wirklich stimmt, der kann jetzt in Trier nach Beweisen suchen – in der ganz formidablen Ausstellung „Nero – Kaiser, Künstler und Tyrann“.

 

Wer sich für die römische Kultur interessiert, muss ja ohnehin früher oder später gen Trier reisen. Nirgendwo sonst nördlich der Alpen ist so viel römische Baukunst zu erleben und zu bewundern wie hier. Porta Nigra, Konstantinbasilika, diverse Thermen, Amphitheater, Römerbrücke, der antik-frühchristliche Kern der Bischofskirche: All das ist ja stets Teil der ältesten Stadt Deutschlands. Wenn nur der Weg zur Mosel nicht so mühsam wäre – weder mit dem Auto, noch und schon gar nicht mit der Deutschen Bahn kommt man wirklich bequem dorthin. Augusta Treverorum liegt wirklich sehr tief im deutschen Westen.

Doch in diesem Sommer gibt es sehr gute Gründe, die Fahrpläne zu studieren. Die Nero-Schau bietet an gleich drei Orten – im Rheinischen Landesmuseum, im Museum am Dom und im Stadtmuseum – einen frappierend spannenden, faszinierenden, immer wieder überraschenden Parcours durch Leben, Wirken und Wirren einer schillernden und maximal übel beleumdeten Herrschergestalt des Abendlandes.

Peter Ustinov begrüßt den Besucher mit Gesang

Spannend ist die Ausstellung schon deswegen, weil sie den Besucher von Anfang an ebenso verführt wie verunsichert. Stufe für Stufe steigt er im Treppenhaus des Landesmuseums einer Nero-Steinbüste entgegen, begleitet von den großen Daten seiner Biografie: die Quintessenz der scheinbar unbestechlichen Historie. Das ist verführerisch. Aber was begrüßt den Besucher dann im Obergeschoss, nachdem er durch einen schweren roten Vorhang geschlüpft ist? Peter Ustinov röhrt in grotesker Toga-Travestie zur plingenden Leier in Mervin LeRoys sagenhaftem „Quo vadis"-Film von 1951. Das verunsichert. Denn keine Frage, das haben die meisten vor dem inneren Auge, sobald der Name Nero fällt: Ustinovs Karikatur des durchgeknallten Wüstlings, Knödelbarden und Brandstifters. Aber wenn wir doch just diesen Nero so deutlich längst im Sinn haben – welche Chance haben dann noch die tatsächlichen Quellen?

Die Hauptausstellung im Landesmuseum erzählt Neros Leben chronologisch. Das kann sie, weil es dem Direktor und Ausstellungschef Marcus Reuter gelungen ist, praktisch alle relevanten Zeugnisse aus den großen Museen dieser Welt, aus Paris und London, Wien, Neapel und Rom nach Trier zu holen, Büsten und Reliefs, Statuen, Mosaike, Porträts auf Wangenklappen, Münzen und Medaillen. Aber es ist keineswegs die Masse, die hier den Besucher begeistert. Es ist vielmehr eine sehr schlaue Konzen-tration auf besondere Merkmale, auf sprechende Details, auf das Umfeld der Kultur, eindrucksvoll präsentiert in selbstbewusst, aber nie spektakelhaft inszenierten Räumen. So erfahren wir von Neros Erziehung durch den Philosophen Seneca, von den Schachzügen seiner Mutter, ihn zum Kaiser zu machen, von seinen Erfolgen in den ersten Herrscherjahren.

Und dann ist doch fast alles auch mit einem Fragezeichen versehen. Was von all diesen Erzählungen ist echt, was verfälscht? Wo wird unsere Interpretation gelenkt von den Kommentaren viel späterer Zeiten? Die römischen Historiker Sueton, Cassius und Tacitus berichten von Nero lang nach dessen Tod. Sie sind Verwaltungsbeamte und Propagandisten der römischen Aristokratie, lassen kein gutes Haar am einstigen Herrscher, der alle Eliten brüskierte, bis der Senat ihn schließlich vom Thron jagte und – gehalten von einer Mistgabel – zu Tode peitschen lassen wollte (woraufhin es Nero am 9. Juni 68 vorzieht, sich lieber selbst einen Kehlenschnitt zu verpassen, wobei ihm allerdings ein Sklave assistieren muss). Noch drastischer die Quellen des frühen Christentums und des Mittelalters, für die Nero zum Mensch gewordenen Luzifer wird, der für den Sex Frauen wie Männer wählt und sich bei der Feier einer Vermählung mit einem Sklaven gar selbst als Frau verkleidet.

Die Macht und ihre Selbstinszenierung – aktueller könnte es nicht sein

Was davon ist Historie, was ist Propaganda? Ohne es explizit zum Programm zu machen, lehrt uns die Ausstellung in Trier, dass grundsätzlich jedes Erzählen über Geschichte stets nur Interpretation ist und letztlich im Dienst der Gegenwart, ob es will oder nicht. Neros Spiel mit den Geschlechterrollen – ein antikes Gender-Spiel mit Laster und Sünde, sozusagen der grün-rote Bildungsplan im ollen Rom? So sah es jedenfalls im Rückblick das auch um moralische Abgrenzung bedachte frühe Christentum. Heutige Altertumswissenschaftler sehen im Outfit-Tausch eine ganz andere Botschaft: Eigentlich wurden die römischen Kaiser erst nach ihrem Tod zum Gott erklärt. Indem Nero tat, was sonst eigentlich nur den Himmelsherrschern möglich war, nämlich die Geschlechterrolle zu wechseln, inszenierte er sich bereits zu Lebzeiten im Rang eines Gottes. Letztlich ist es die Kunst, die dem Menschen Göttlichkeit verleiht – eine spannende Verbindung zu Neros legendären, angeblich letzten Worten: „Welch ein Künstler geht mit mir zugrunde!“

Die Macht und ihre Selbstinszenierung – die Hybris des Despoten – das süße Gift des Populismus – die Katastrophe als Ausgangspunkt der Modernisierung: in dieser Nero-Schau gibt es Dutzende von Anknüpfungspunkten zu heutigen, höchst aktuellen Debatten. Sie kitzelt keineswegs nur die Sinne des Betrachters, sondern vor allem seinen Intellekt, verzichtet aber völlig auf zeigefingerhafte Pädagogik.

Und was hat die ganze Geschichte nun mit Trier zu tun? Warum die erste umfassende Nero-Ausstellung tief im deutschen Westen? Nein, Nero selbst war nie in Trier. Die Schau kriegt zum Schluss zwar tatsächlich noch eine Kurve zu ihrem Ort, aber sie ist steil: Nach Neros Tod brechen Nachfolgekämpfe aus, deren einer Schwerpunkt zu einer fürchterlichen Schlacht just im Moselland führt. Aber was braucht der Betrachter einen weiteren Grund, in diesem Sommer nach Trier zu fahren, außer just diesen: eine fabelhafte Schau, die man beim Verlassen am liebsten gleich noch ein zweites Mal genießen möchte, in der sicheren Erwartung, dabei wieder neue Erkenntnisse gewinnen zu können. Nero ist nun in Trier. Nichts wie hin. Er bleibt nicht ewig.