Empörung über das Doppelspiel von Russland und Assad: Statt in Genf zu verhandeln, haben die Verbündeten eine Großoffensive auf Aleppo gestartet, die zu einer humanitären Katastrophe führen könnte.

Stuttgart - Die verheerenden russischen Luftangriffe und die Offensive der syrischen Armee gegen Aleppo haben scharfe internationale Reaktionen und ein Rätselraten über die Motive von Präsident Wladimir Putin ausgelöst. Mehr als 70 000 Syrer sind am Wochenende Hals über Kopf aus dem verwüsteten Ostteil der Metropole geflohen, die seit drei Jahren von Rebellen gehalten wird und nun eingekesselt zu werden droht.

 

Am Grenzübergang Bab al-Salameh zur Türkei harren Zehntausende verzweifelter Menschen aus, die sich vor den heranrückenden Regimetruppen und dem permanenten Bombenhagel in Sicherheit bringen wollen. „Die Opposition verliert mittlerweile Minute für Minute an Boden. Wir stehen vor einem Albtraum für die Menschen“, so Rae McGrath, Chef von Mercy Corps, einer in Nordsyrien und der Türkei aktiven amerikanischen Hilfsorganisation. „Sehr viele Menschen machen sich auf den Weg, dies ist ohne Zweifel die schlimmste Situation seit Beginn des Krieges.“

Eine Großoffensive, während in Genf verhandelt wird

In Amsterdam berieten am Wochenende Europas Außenminister über die Folgen der Eskalation. „Es kommt mit großer Wahrscheinlichkeit eine große Flut von Menschen auf uns zu“, erklärte nach dem Treffen der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn. UN-Generalsekretär Ban Ki-moon warf dem Kreml vor, mit seinem Vorgehen auf dem Schlachtfeld die Verhandlungen in Genf sabotiert zu haben sowie die UN-Resolution für den internationalen Friedensplan in Syrien zu ignorieren. Der UN-Sicherheitsrat hatte im Dezember mit ausdrücklicher Zustimmung von Russland und China gefordert, die Bombardierung von Zivilisten müsse gestoppt und Schritte für einen allgemeinen Waffenstillstand eingeleitet werden.

US-Außenminister John Kerry erklärte, er habe eine „sehr robuste“ Unterredung mit seinem russischen Amtskollegen Sergej Lawrow geführt, und die nächsten Tage würden zeigen, „ob die Leute es nun ernst meinen oder nicht“. Er kündigte an, die Gespräche würden am Donnerstag in München fortgesetzt beim vierten Treffen der internationalen Syriengruppe sowie bei der anschließenden Sicherheitskonferenz, an der neben Kerry und Lawrow auch der iranische Außenminister Mohammad Zarif teilnehmen soll. Frank-Walter Steinmeier forderte alle Seiten auf, Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen zu schaffen. „Das verlangt, dass der gesamte Prozess nicht kurzfristigem militärischem Taktieren geopfert wird“, sagte der deutsche Außenminister.

„Wir werden kämpfen bis zum letzten Mann“

Nach Angaben von Beobachtern flog die russische Luftwaffe allein während der beiden Tage der Genfer Gespräche mehr als 320 Einsätze, denen die Zivilbevölkerung und die Rebellen hilflos ausgesetzt sind. „Gegen die russischen Jets haben wir keine Chance“, erklärte einer der Kommandeure in Aleppo. „Wir brauchen so schnell wie möglich Flugabwehrraketen.“ Diese Waffen jedoch halten ihre Unterstützer Saudi-Arabien, Türkei und Katar auf amerikanischen Druck nach wie vor zurück. Washington fürchtet, solche Geschosse könnten auch in die Hände der Terrormiliz IS geraten und dann gegen hochfliegende Passagierflugzeuge eingesetzt werden.

Die syrische Armee wird bei ihrem Vormarsch laut der libanesischen Zeitung „Al-Nahar“ von Einheiten der libanesischen Hisbollah, schiitischen Milizen aus dem Irak sowie den Al-Quds-Brigaden der iranischen Revolutionären Garden unterstützt. An den Operationen sollen auch russische Spezialkräfte sowie moderne T-90-Panzer, gegen die die TOW-Abwehrraketen der Assad-Gegner bisher wenig ausrichten, beteiligt sein.

Die Rebellen in Aleppo stemmen sich den Angreifern entgegen mit dem Mut der Verzweiflung. „Wir schlagen unsere bisher wichtigste Schlacht“, zitierte die „Washington Post“ einen Sprecher der Aufständischen. „Die Gefechte in den kommenden Tagen werden sehr erbittert werden. Wir werden kämpfen bis zum letzten Mann. Und wir hoffen, dass wir unsere Landsleute nicht im Stich lassen.“