Bis zur Bundestagswahl sind es keine hundert Tage mehr. Doch von Wahlkampfstimmung, geschweige denn von einer Wechselstimmung ist noch nichts zu spüren. Für die Grünen liegt das vor allem an der SPD. Doch auch auf dem Parteitreffen der Grünen in Singen ging es eher behäbig zu.

Singen - Woran hakt es, dass die Muntermacherparolen auf dem kleinen Landesparteitag der Grünen in Singen (Landkreis Konstanz) nicht so recht zünden? An den Sprüchen liegt es nicht, die sind gar nicht so schlecht, sie klingen entschlossen. „Wir werden rausgehen und die Wahl rocken“, impft Parteichef Chris Kühn seinen Leuten ein, um gleich noch für Baden-Württemberg das beste Ergebnis bei einer Bundestagswahl einzufordern: „Die Kraft und die Motivation dazu haben wir.“ Wirklich?

 

Keine hundert Tage mehr sind es bis zur nächsten Wahl, aber niemand scheint das zu bemerken. Schon komisch, sagt Winfried Hermann, der Verkehrsminister aus Stuttgart, dass so gar kein Thema den Wahlkampf zum Klingen bringe, nicht einmal das Hochwasser, dass doch Anlass geben könne, um über den Klimawandel zu reden oder wenigstens über den Zusammenhang von Ökologie und Hochwasserschutz. Vielleicht liegt das ja daran, dass alle auf den Sommer warten, der am Wochenende auch in Singen ein Präludium aufführt und die Blicke in der Stadthalle sehnsuchtsvoll nach draußen, ins Grüne schweifen lässt. Wer interessiert sich da für Bundestagswahl?

Alles ruhig an den Stammtischen

Es ist ja nicht so, dass die Umfragen den wütenden Wunsch nach einem Machtwechsel signalisierten. Die Medien arbeiten sich an den Schrittfehlern des SPD-Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück ab, während Kanzlerin Angela Merkel jede auch nur halbwegs originelle Forderung der Berliner Opposition mit dem Reflex pariert: „Genau! Das finde ich auch.“ Raum für Kontroverse und Streit bleibt da wenig. Dabei lebt die Demokratie doch davon. „Das wird ein harter Wahlkampf“, sagt Kerstin Andreae, die Spitzenkandidatin. Winfried Hermann berichtet, er spüre keine politische Aufgeregtheit in diesen Tagen. Für die Aussichten bei der Bundestagswahl ist das, jedenfalls für Rot-Grün, kein gutes Zeichen. Denn Nervosität entsteht dann, wenn das Rennen offen ist, ein Machtwechsel möglich erscheint. Aber wie soll das gehen?

„Ich glaube an die Mobilisierung“, sagt Grünen-Landeschef Kühn. „Knapp 100 Tage sind noch genug Zeit, um die Prozente zu verschieben.“ Dafür sei allerdings entscheidend, dass es Grünen und SPD gelinge, Themen zu setzen. Die Grünen hätten vorgelegt mit dem „schwierigen Auswärtsspiel“ in der Steuerpolitik. Auch die Energiewende liege im engeren Themenspektrum der Grünen. Nun müsse die SPD nachlegen. „Meine Erwartung an die SPD ist, dass sie die Kanzlerin inhaltlich stellt.“

„Wir müssen die grünen Schläfer wecken“

Mobilisierung läuft über Polarisierung. Genau die hatte sich Kühn erhofft, als die SPD Peer Steinbrück als Kanzlerkandidaten nominierte. So erging es vielen bei den Grünen, die sich zwar noch schmerzlich an die Zustände in der rot-grünen Koalition erinnern, als Steinbrück dort Ministerpräsident war. Aber dass er die nur schwer fassbare Kanzlerin Merkel stellen würde, da waren sie sich sicher. So kann man sich täuschen. Alles komme nun darauf an, sagt Kühn, dass die SPD ihre Anhänger aufrüttle. Die Grünen, da ist er sich sicher, stünden bereit. Dass sich die Grünen auf die SPD als künftigen Koalitionspartner fokussierten, liegt für ihn auf der Hand. „Die Schnittmengen mit der SPD sind größer.“

13,9 Prozent hatten die Grünen bei der Bundestagswahl 2009 in Baden-Württemberg erreicht. Das Ergebnis ist, da sie nun den Ministerpräsidenten in Stuttgart stellen, leicht zu toppen. Wer bei der Bundestagswahl grün wähle, sagt Kühn in seiner Rede, der mache „Winfried Kretschmann den Job als Ministerpräsident ein klein wenig leichter“. Vielleicht bringt ja der Hinweis auf den populären Regierungschef noch ein paar zusätzliche Wähler. „Wir müssen die grünen Schläfer wecken“, sagt eine Delegierte, dann erreiche man das Ergebnis der zurückliegenden Landtagswahl. 24,2 Prozent waren das. Fukushima, Stuttgart 21 und der EnBW-Deal mobilisierten die Wähler – und so entstand ein Sog, der in den Umfragen den Wechsel möglich erschienen ließ. Die Wahlbeteiligung legte um dreizehn Prozent zu.

Es fehlt die große Erzählung

Doch noch fehlt für die Bundestagswahl die große Erzählung, welche die Republik aus ihrer Schläfrigkeit zu reißen vermöchte. So bleibt es auch beim Parteitreffen in Singen bei Bausteinen, die aber noch kein Ganzes ergeben. Südwest-Spitzenkandidatin Andreae geißelt die milliardenschweren Wahlversprechen der Kanzlerin. Sie kritisiert Merkels Hochglanzpolitik mit Gipfeltreffen für jeden Anlass. „Man darf nicht nur über die Gipfel gehen, man muss auch durch die Täler gehen. Auch bei der Energiewende habe Schwarz-Gelb nichts vorzuweisen. Der Kohlendioxid-Ausstoß sei zuletzt um zwei Prozent gestiegen. Bundesparteichef Cem Özdemir verteidigt die von den Grünen avisierten Steuererhöhungen mit der dafür in Aussicht gestellten besseren Kinderbetreuung. Und Thekla Walker, die Landesvorsitzende, macht sich bei der Einbringung des familienpolitischen Leitantrags für die Abschmelzung des Ehegattensplittings stark. Dann spielt die Regie den Sister-Sledge-Song „We are family“ ein, aber nicht zu laut. Alles wirkt harmonisch. Wie in Watte gepackt.

Manfred Lucha, der Landtagsabgeordnet aus Ravensburg, leistet sich allen Widrigkeiten zum Trotz eine ordentliche Portion Optimismus. Die Grünen mit ihrem bürgerlichen Habitus passten zu Baden-Württemberg. „Wir können in die Tiefe der Gesellschaft vordringen und uns dort auch halten.“ Und für die Bundestagswahl gelte: „Verloren ist erst, wenn das Spiel aus ist.“