Es ist ein windiger Tag. Die Fahnenschwinger vom Fanfarenzug haben alle Mühe, ihre Kunststücke beim Historischen Festumzug des Bad Uracher Schäferlaufs vorzuführen. Immer wieder tanzt einer unfreiwillig aus der Reihe, um seiner Fahne hinterherzujagen, die eine Böe gepackt hat. Auch Winfried Kretschmann trotzt Wind und der Julisonne, die sticht, wenn doch mal die Wolken aufreißen. Stundenlang winkt und klatscht er von der Ehrentribüne den Trachtenträgern zu. Gemeinsam mit Tausenden Besuchern, die sich rund um das Fußballfeld auf dem Festplatz Zittelstatt an einem steilen Hang am Albtrauf eingefunden haben, stimmt er ein Volkslied an: „Im schönsten Wiesengrunde an“, singt Kretschmann an der Seite seiner Frau Gerlinde, „ist meiner Heimat Haus.“
Einige Tage später wird er sagen: „Ich gehe zu solchen Veranstaltungen, weil ich solche Veranstaltungen liebe und weil sie wert sind, dass man da hingeht.“ Auf dem Festplatz ist er Ehrengast, darf beim 300. Jubiläum des Schäferlaufs Schäferkönigin und Schäferkönig krönen. Zwei Schafe blöken neben ihm ins Mikrofon, als er dabei von Heimatgefühlen spricht – und dass die bei solchen Festen im besten Sinne zum Ausdruck kommen.
Kretschmanns Idee des Konservativen
Dass der Grüne Kretschmann mit Begriffen wie Heimat nicht fremdelt, ist nichts Neues. „Worauf wir uns verlassen wollen“, titelt ein von ihm 2018 veröffentlichter Band, in dem er auf rund 150 Seiten seine Idee des Konservativen erläutert. Darin breitet er seinen Heimatbegriff aus. Dass Dialekt für ihn Heimat ist, schreibt er – aber auch: „Naturschutz ist Heimatschutz im besten Sinne.“
Vor Kurzem spann er seine Gedanken zum Konservativen in einem Gastbeitrag für die „Welt“ weiter. Es stelle sich angesichts der multiplen Krisen dieser Zeit die Frage, „wie eine neue und zeitgemäße Idee des Konservativen aussieht, die Orientierung gibt und Vertrauen schafft“. Die Idee, die der grüne Ministerpräsident entwirft, fußt auf dem Begriff des Wertkonservatismus, den der SPD-Politiker Erhard Eppler schon in den 1970er Jahren geprägt hat. Eine Idee des Konservativen, die nicht an Strukturen festhält, sondern an Werten und damit Raum für Veränderung lässt. Eine Idee des Konservativen, die Halt gibt und dennoch zukunftsfähig ist, weil sie auf Veränderungen setzt – um zu bewahren, wie Kretschmann es umschreibt.
Es ist diese Seite, die Kretschmann so mehrheitsfähig wie erfolgreich gemacht hat. Nicht nur mit Blick auf die Landtagswahl im März 2026, wenn der dann 77-Jährige nicht mehr antreten will, wird die entscheidende Frage für die Grünen im Land sein, wie sie diesen Kern weiterführen können.
Der Politikwissenschaftler Ulrich Eith sagt, er halte Kretschmann nicht für konservativ im traditionellen politischen Verständnis, sondern für wertkonservativ: „Winfried Kretschmann hat sich als wertkonservativer Politiker etabliert mit Themen wie der Politik der Gehörtwerdens oder der Verbindung von Ökonomie und Ökologie.“ Kretschmann repräsentiere die Tradition der Grünen in Baden-Württemberg. „Der Zweig der Realpolitiker ist in Baden-Württemberg immer schon sehr stark gewesen. Die Grünen im Land waren nie im klassischen Sinne links.“
Kretschmann könne niemand kopieren, sagt Eith. „Aber die Grünen können den wertkonservativen Kern erhalten, wenn sie es schaffen, seine Politik weiterzuentwickeln.“ Er hält es nicht für ausgeschlossen, dass die Partei an seine erfolgreiche Ära anschließt. „Da hängt viel von den Personen und der Thematik des Wahlkampfs ab.“
Spricht man allerdings mit Grünen im Land, ist da eine große Unsicherheit zu spüren. Die 33 Prozent, die man bei der Landtagswahl 2021 noch erzielte, halten manche schon jetzt für unerreichbar. Kretschmann erfreute sich mehr Zustimmung unter CDU-Anhängern als die eigene Spitzenkandidatin der Christdemokraten, Susanne Eisenmann. Der Erfolg war damals zusätzlich getragen vom Aufwind der Fridays-for-Future-Euphorie, die den Grünen schon 2019 bei der Europa- und Kommunalwahl gute Ergebnisse bescherte.
Wie es aussehen kann, wenn diese Euphorie weg ist, zeigte das jüngste Meinungsbild. Auf gerade mal 24 Prozent kamen die Grünen zuletzt in einer Umfrage des SWR. Und die Partei ist nicht mehr die gleiche: Seit 2011 hat sie ihre Mitgliederzahl fast verdoppelt auf aktuell 16 510. Doch die Struktur derer, die hinzukommen, hat sich verändert. „Von 2011 bis 2019 fanden vorwiegend ältere Umwelt- und Naturschutzbewegte zu uns“, sagt Grünen-Co-Vorstand Pascal Haggenmüller. Seit 2019 träten verstärkt jüngere Menschen mit starkem Bewusstsein für Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit in die Partei ein.
Was kommt nach Kretschmann?
Die gilt es nun einzuschwören auf die Basis, die Kretschmann geschaffen hat. „Unsere Aufgabe für die Zukunft lautet, dass die Bodenständigkeit Winfried Kretschmanns weiterhin mit uns Grünen verbunden sein wird“, sagt Haggenmüller.
Und noch etwas sollen sich die Grünen von Kretschmann abschauen: „Was Winfried Kretschmann erfolgreich macht und gemacht hat, ist das Gespräch mit den Menschen auf Augenhöhe“, sagt Haggenmüller. „Die Frage für uns Grüne ist, schaffen wir es, unsere Veränderungsbereitschaft so zu vermitteln, dass die Menschen das nachvollziehen können.“ Oder anders ausgedrückt: „Sprechen wir über CO₂-Speicher und Permafrost oder über Bäume, die in der Stadt Schatten spenden und das Leben angenehmer machen. Klimaschutz ist ja nichts, womit wir die Menschen gängeln wollen.“
Ob das funktioniert, werde sich 2024 bei der Kommunalwahl zeigen. „Wie haben eine starke kommunale Verankerung“, sagt Haggenmüller. In 450 Gemeinderäten im Land sind die Grünen mit 2300 Vertretern auf kommunaler Ebene vertreten. „Ich würde das bodenständig nennen.“
Das Bodenständige erhalten
Einer, von dem die Grünen längst wissen, dass er das verkörpern kann, steht an diesem windigen Julisonntag mit auf dem Festplatz. Cem Özdemir krönt als Ehrengast gemeinsam mit Winfried Kretschmann die Sieger des 300. Schäferlaufs. Bad Urach ist ein Heimspiel für den Bundeslandwirtschaftsminister, der in dem Städtchen am Rande der Alb aufgewachsen ist und sich daran erinnert, dass er als Kind immer im Fanfarenzug trommeln wollte. Da macht es auch nichts, dass Kretschmann und er die Kronen für Schäferkönigin und Schäferkönig vertauschen. Tosender Applaus ist ihm sicher, wenn er Sätze sagt, wie: „Ich bin Traditionalist im besten Sinne des Wortes.“
Özdemir, der im politischen Raum – und auch in Umfragen – als aussichtsreicher Nachfolger für Kretschmann gehandelt wird, ist einer, der selbst schon als Grünen-Bundeschef vor Jahren betont hat, wie wertkonservativ seine Partei ist. Auch er fremdelt nicht mit Begriffen wie Heimat. Und er betont, wie wichtig Vielfältigkeit und Zusammenhalt bei Heimatfesten wie dem Schäferlauf sind. „Da ist von Anzugträger über den Nasenring bis zum Tattoo alles dabei. Das geht“, sagt er. „Das ist doch die Gesellschaft, die wir uns wünschen. Wenn das kaputtgeht, wird es gefährlich.“ Seiner Partei traut er zu, dass sie das im Land erhält. „Die Grünen“, sagt er, „kriegen das schon ganz gut hin in Baden-Württemberg – das sieht man an der Landesregierung.“