Bei den Grünen steigt die Spannung, die Kür der Spitzenkandidaten ist fast abgeschlossen. Je nachdem wen die Basis ins Rennen schickt, ändert sich der Kurs der Partei. Wir deklinieren schon mal durch, was die Personalentscheidungen bedeuten – und was nicht.

Politik/Baden-Württemberg : Bärbel Krauß (luß)

Berlin - Nicht nur vor Gericht und auf hoher See ist man, wie der Volksmund seit jeher weiß, in Gottes Hand. Das gilt auch bei einer Mitgliederentscheidung, wie die Bewerber um einen Spitzenplatz im Bundestagswahlkampf der Grünen derzeit merken. An diesem Mittwoch wird verkündet, welches Spitzenduo die Basis der Grünen in den Bundestagswahlkampf schickt. Wie die Entscheidung ausfällt? Bis ziemlich kurz vor der Bekanntgabe, die für 10 Uhr anberaumt ist, weiß das kein Mensch. Zwar läuft die Auszählung der 35 853 Stimmzettel seit einigen Tagen. Aber der Geschäftsführer der Grünen Michael Kellner will das Endergebnis der Urwahl erst kurz vor der Veröffentlichung zusammenzählen lassen. Seriöse Prognosen sind vorher eigentlich ausgeschlossen. Denn weil sie im politischen Alltagsgeschäft nicht vorkommt, ist die Basis egal welcher Partei ein ziemlich unbekanntes Wesen. Das gilt auch für die Grünen. Die weit überwiegende Zahl der Mitglieder ist passiv. Sie kommen nie zu Versammlungen oder Parteitagen. Was ihnen wichtig ist, was sie umtreibt oder stört, weiß keiner. Das macht sie unberechenbar. Deshalb wächst auf den letzten Metern bis zur Entscheidung bei den Grünen die Spannung.

 

Denn klar ist, dass die 59 Prozent der Basis, die bei der Urwahl ihre Stimme abgegeben haben, nicht nur ein Personenduo für den Wahlkampf küren, sondern der Parteiführung zugleich Hinweise für den Kurs ihrer Wahl mit auf den Weg geben. Wir deklinieren vorab schon einmal durch, welche politische Botschaft mit den drei Alternativ-Paaren verknüpft ist.

Die Hofreiter-Variante

Die Chefin der Bundestagsfraktion Katrin Göring-Eckardt, 50, hat ihren Platz im Spitzenduo mangels Konkurrenz um den Frauenplatz sicher. Die Frau mit dem bürgerlichen Profil aus dem Osten gehört zum realpolitischen Flügel, bescheinigt sich in sozialen Fragen selbst aber eine eher linke Orientierung. Nominiert die Basis ihren Ko-Fraktionschef Anton Hofreiter, 46, für den männlichen Spitzenplatz, dann sind damit zwei klare Aussagen gesetzt: Erstens macht die Basis deutlich, dass die ökologischen Kernthemen von der Agrar- über die Verkehrs- bis zur Energiewende mit einem schnellen Kohleausstieg im Wahlkampf die zentrale Rolle spielen sollen. Dafür steht Hofreiter als einer der profiliertesten und sachkundigsten Ökologen seiner Partei. Zweitens signalisieren die Mitglieder, dass sie die traditionelle, flügelpolitisch austarierte Aufstellung der Grünen für ein Erfolgsmodell halten. Sie möchten neben den Realos auch die Linken profiliert und ganz vorne im Wahlkampf vertreten wissen. Eine Vorentscheidung über mögliche Koalitionen ist damit nicht verknüpft.

Die Özdemir-Variante

Wird Parteichef Cem Özdemir, 51, neben Katrin Göring-Eckardt auf den Schild gehoben, dann gehen die Grünen erstmals mit einem Übergewicht der Realos an den Start. Dann kann Özdemir sich in seinem Kurs als Parteichef bestätigt fühlen. Er will die Grünen so positionieren, dass sie sowohl für ihre traditionelle Klientel im linken Lager attraktiv sind, als auch möglichst viele bürgerliche Wähler ansprechen. Ein Sieg Özdemirs bei der Urwahl kann auch als Auftrag gedeutet werden, dass die Partei sich thematisch breiter aufstellen soll: Neben Ökologie, Weltoffenheit und sozialer Gerechtigkeit sollen auch wirtschafts- und sicherheitspolitische Fragen eine Rolle spielen. Mit Cem Özdemir als Teil des Spitzenduos gewinnt die schwarz-grüne Koalitionsoption ein prominentes Aushängeschild im Wahlkampf. Es wäre aber verfehlt, eine Basis-Entscheidung für Özdemir als Votum gegen ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis zu deuten. Gewinnt Özdemir die Urwahl, dann sicher auch deshalb, weil er neben Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann der bekannteste Grünen-Politiker in Deutschland ist.

Die Habeck-Variante

Gewinnt der schleswig-holsteinische Umweltminister Robert Habeck, 47, die Urwahl, dann demonstrieren die Mitglieder der Grünen am meisten Experimentierfreude und echte Lust auf Neues. Auch Habeck ist Realo. Katrin Göring-Eckardt den Mann aus dem hohen Norden an die Seite zu stellen, heißt, dass die Basis den Flügelproporz für nebensächlich hält. Das gilt umso mehr, als Habeck deutlich weniger bekannt ist als Hofreiter und Özdemir, die mit ihren Positionen an der Parteispitze fest verankert sind. Auch viele Grünen-Mitglieder kennen Habeck gar nicht oder nur aus der Ferne. Zugleich hat er – zumindest auf abstrakter Ebene – das klarste Erneuerungsprogramm für die Grünen formuliert. Habeck will seine Partei aus der Öko-Nische herausführen, das Flügeldenken überwinden, die Lagergrenzen hinter sich lassen und grüne Meinungsführerschaft in allen politisch relevanten Fragen anstreben. Diese Zielvorstellung verknüpft er als einziger der vier Bewerber mit konkreter Regierungserfahrung im Kieler Kabinett. Allerdings ist während des Urwahlverfahrens nicht richtig klar geworden, mit welchen konkreten politischen Zielen Habeck sein Projekt unterlegen würde. Entscheidet die Basis sich für ihn, will die Partei im Bundestagswahlkampf dezidiert zu neuen Ufern aufbrechen. Eine koalitionspolitische Vorentscheidung ist auch mit Habecks Sieg nicht verknüpft; es bleibt dabei, dass die Grünen ohne Koalitionsaussage in den Bundestagswahlkampf ziehen.

Und wer hat kurz vor Schluss die Nase vorne?

Seriöse Prognosen sind auch kurz vor knapp nicht machbar. Das lehrt jedenfalls das Beispiel der Urwahl vor der vorigen Bundestagswahl. Damals gab es um den Frauenplatz im Spitzenduo so viel Konkurrenz wie heute bei den Männer. Die Auguren waren sich seinerzeit vor der Auszählung ziemlich sicher, dass die damals noch weniger bekannte Ost-Grüne Katrin Göring-Eckardt gegenüber den beiden gestandenen Promi-Frauen Renate Künast und Claudia Roth das Nachsehen haben würde. Tatsächlich aber lag die heutige Bundestagsfraktionschefin Göring-Eckardt mit 47,3 Prozent der abgegebenen Stimmen mit weitem Abstand vor der Ex-Ministerin Renate Künast (38,6) und der früheren Parteichefin Claudia Roth, die mit 26,2 Prozent regelrecht abgestraft wurde.