Cem Özdemir hat es geschafft. Er führt die Landes-Grünen zusammen mit Kerstin Andreae in die Bundestagswahl. Die Vernunft hat sich durchgesetzt, kommentiert Reiner Ruf.

Böblingen – Der Hunger kommt mit dem Appetit. So ist das mit Essen, und so verhält es sich auch mit dem Regieren. Seit eineinhalb Jahren sitzen die Grünen in Baden-Württemberg an der Macht. Das gefällt ihnen gut. So gut, dass sie bei ihrem Landesparteitag am Samstag konsequent jeden Eklat mieden. Die Grünen stellten ihre Landesliste für die Bundestagswahl auf – und was kam dabei heraus? Manne Lucha, der Landtagsabgeordnete aus dem württembergischen Allgäu sagt es so: „Was sind wir doch für eine schlaue Partei: wählen die richtigen Leute an den richtigen Ort.“

 

Felsbrocken vom Herzen gefallen

Das war überhaupt nicht ironisch gemeint, es war ein erleichtertes Aufatmen. Die richtigen Leute sind für Lucha: die beiden Realpolitiker Kerstin Andreae und Cem Özdemir, die sich gegen ihren Konkurrenten vom linken Parteiflügel, Sylvia Kotting-Uhl und Gerhard Schick, schlussendlich durchsetzten. Und der richtige Ort: Das sind beiden ersten Plätze auf der Landesliste. Andreae und Özdemir führen die Südwest-Grünen als Spitzenkandidaten in die Bundestagswahl. Dem Parteiestablishment – Ministerpräsident Winfried Kretschmann vorweg – sind damit nicht nur Steine von den Herzen gefallen, sondern Felsbrocken. Wer wissen will, warum, der kann sich auf einen Satz aus Andreaes Vorstellungsrede beziehen: „Wir wollen keine Erwartungen erwecken, die wir man nicht erfüllen kann.“ Gemeint war: die man nicht bezahlen kann.

Ein Scheitern Özdemirs – eben erst wieder zum Bundesvorsitzenden gewählt – hätte die Partei in längst überwunden geglaubte Zeiten zurück geworfen. Zeiten, in denen die Grünen als nette Chaoten galten, als sympathisch zwar, das politische Leben bereichernd, aber doch als unzuverlässig und keinesfalls regierungsfähig. Denn was wäre von einer Partei zu halten gewesen, die Özdemir zwar zum Bundesvorsitzenden wählte als Spitzenkandidaten für Baden-Württemberg jedoch ablehnt? Eben. Schizophrenie ist keine politische Tugend, und die Grünen haben dies rechtzeitig erkannt. Zumal Özdemir in Stuttgart ein Direktmandat erobern will – ein Vorhaben, das zur Lachnummer verkommen wäre, hätte er die Spitzenkandidatur verpasst.

Stramm staatstragend

Diese Zusammenhänge hatte Özdemirs Konkurrent Schick nicht wahrhaben wollen, womit sich der an sich kluge Finanzpolitiker selbst schadete. Beide Parteilinke – Schick wie Kotting-Uhl – redeten auf dem Parteitag gut, und sie wurden dann auch brav auf die Listenplätze drei und vier gewählt. Damit waren die divergierenden Machtansprüche der Parteiflügel einigermaßen austariert, auch wenn die folgenden Listenplätze fünf, sechs, und sieben ebenfalls von den Grünen-Linken gekapert wurden. 15 bis 18 Bundestagsmandate gelten für die baden-württembergischen Grünen derzeit als erreichbar.

In der Summe zeigten sich die Südwest-Grünen also als stramm staatstragend und regierungshungrig. Das müssen sie auch sein, denn vom Baden-Württemberg-Ergebnis wird für die Gesamtpartei bei der Bundestagswahl viel abhängen. Von einer Regierungsmehrheit sind SPD und Grüne auf Bundesebene noch ein gutes Stück entfernt. Und wenn es nicht reicht? Nun, Ministerpräsident Kretschmann hat sich ausdrücklich allen Denkverboten zum Trotz gegen eine „Ausschließeritis“ in der Koalitionsfrage gewandt. Machthunger haben die Südwest-Grünen auf ihrem Parteitag in Böblingen gezeigt. Ein Umschwenken in der Koalitionsfrage hin zu Schwarz-Grün, das ist jedoch gewiss, hätte zur Folge, dass sich der Takt beim Flügelschlagen in der Partei nochmals deutlich erhöht.