Den altgedienten Grünen Hans-Christian Ströbele noch einmal in den Bundestagswahlkampf zu schicken, um einen Alterspräsidenten namens Alexander Gauland zu verhindern, ist ein politisches Armutszeugnis, meint unsere Kolumnistin Katja Bauer.

Berlin - Hans-Christian Ströbele sitzt seit 1998 im Bundestag, und er wollte es jetzt eigentlich gut sein lassen. Der einstige Mitbegründer der Alternativen Liste hat vier Mal das Direktmandat in Kreuzberg geholt. Nun gibt es Parteifreunde, die ihn zu einer erneuten Kandidatur bewegen wollen. Keiner sagt, dass 77-Jährige nicht noch ein gehöriges Maß an Wissen und Erfahrung ins politische Geschäft einbringen könnten. Aber offenbar steckt hinter der Ermutigung ein anderes Kalkül: Ströbele soll als Verhinderer ins Parlament. Er ist älter als Alexander Gauland, der Vizechef der AfD, der für den Bundestag kandidiert. Und so könnte dem in Demagogie begabten Gauland die Ehre zufallen, als Alterspräsident in der ersten Sitzung nach der Wahl die Legislaturperiode mit einer Rede zu eröffnen. Ströbele, so die Idee, könnte dies verhindern.

 

Unredliche Mittel der Auseinandersetzung

Was für ein Armutszeugnis steckt in dieser Überlegung. Demokratie bedeutet Streit um Positionen, ein Ort dafür ist das Parlament. Und wen der Souverän ins Parlament wählt, der streitet mit, und zwar nach den Spielregeln, die vor Beginn des Spiels festgelegt wurden. Politische Bypasslösungen bloß um die zu erwartende populistische Selbstdarstellung des Alexander Gauland zu verhindern, wären prinzipiell unredliche Mittel der Auseinandersetzung. Die AfD könnte hier zurecht auf Ungleichbehandlung verweisen. Auch politisch bringen solche Umgehungen nichts, wie man am Europaparlament sehen kann. Hier wurde das Amt des Alterspräsidenten abgeschafft, weil die Sorge bestand, dass der damalige Front-National-Chef Jean-Marie Le Pen es bekleiden könnte. Sorge scheint allerdings kein guter Ratgeber im demokratischen Streit.

Positionen in aller Schärfe klären

Viel eher geht es darum, diesen Streit nicht formalistisch, sondern inhaltlich auszutragen. Was heißt das konkret? Ungemütlich werden gegenüber dem, was ein Alexander Gauland schon mal bei einem gemütlichen Glas Rosé seinen Zuhörern erzählt. Positionen in aller Schärfe klären, auch wenn sie sich bisweilen in das weiche Gewand der nachdenklichen Formulierung kleiden. Deutlich haften bleibt da zum Beispiel eine Erörterung zum Vernichtungslager Auschwitz. Deutsche ermordeten hier zwischen 1,1 und 1,5 Millionen Menschen, sie bauten Öfen, um sie zu verbrennen. Vorher schnitten sie ihnen die Haare ab und beraubten sie all ihrer Habe. In einem Interview mit der „Zeit“ in diesem Frühjahr erklärte Gauland dazu folgendes: „Ich war kürzlich das erste Mal in Auschwitz, wobei ich festgestellt habe, dass es mich nicht mehr ergriffen hat, anders als bei meinem Besuch in Buchenwald. Es ist wie gefrorener Schrecken. Wenn man die vielen Haare und Pinsel und Koffer sieht, hat man plötzlich das Gefühl, das ist versteinert, das spricht nicht mehr. Ich glaube, dass Au-schwitz, auch als Symbol, viel in uns zerstört hat.“ Etwas später in diesem Gespräch über Identität und die Frage nach dem Bruch im deutschen Nationalgefühl fällt noch ein anderer Satz: „Hitler hat sehr viel mehr zerstört als die Städte und die Menschen, er hat den Deutschen das Rückgrat gebrochen, weitgehend.“ Auschwitz hat viel zerstört – in uns? Man kann dieses Interview zwanzigmal, hundertmal lesen und trotzdem nicht verstehen. Aber vielleicht gibt es für den politischen Mitbewerber ja mal die Gelegenheit, genauer nachzufragen. Bei Herrn Gauland, wenn er mal wieder im Talkshowsessel sitzt. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kolumne-von-katja-bauer-die-wahrheit-in- varianten.a04e5028-be33-45c6-ba20-c6930d3be373.html http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.kolumne-von-katja-bauer-die-gefuehlte- wirklichkeit.65a8282c-f33f-480e-ba31-22400ed527d1.html

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Am kommenden Dienstag, 6. Dezember, schreibt unsere Autorin Sibylle Krause-Burger