Egotripp oder wichtiger Kampf für den Rechtsstaat? An einem Freiburger Juristen scheiden sich die Geister. Seit vier Jahren wehrt er sich dagegen, seine gründliche Arbeitsweise zu ändern – und pocht auf die richterliche Unabhängigkeit.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart / Freiburg - Neulich kam es mal wieder besonders dick für Thomas Schulte-Kellinghaus. Per Leserbrief in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ ging da ein Kollege aus Köln mit dem Freiburger Richter ins Gericht. Keinerlei Verständnis zeigte er für dessen bundesweit beachteten Kampf gegen eine Ermahnung, weil er nur gut zwei Drittel des durchschnittlichen Pensums an Fällen erledige. Die Gründe des 62-Jährigen, der dadurch seine richterliche Unabhängigkeit verletzt sieht, seien selbstgerecht und eigensüchtig. „Richter Schulte-Kellinghaus backt lieber Kuchen als Brot, und das dauert eben etwas länger“, höhnte der Kammervorsitzende aus Köln. Dass den meisten Rechtsuchenden Brot genüge, fechte ihn nicht an. Immerhin gestehe er anderen Richtern „großzügig das Recht zu, weniger sorgfältig und gründlich zu arbeiten“ als er.

 

So offen und persönlich wird Schulte-Kellinghaus selten attackiert. Groß, hager und ernst sitzt er in einem Museumscafé und liest den Brief, kopfschüttelnd legt er ihn zur Seite. An der Freiburger Außenstelle des Oberlandesgerichts (OLG) Karlsruhe, wo er seit 2004 Recht spricht, würde ihm niemand Derartiges ins Gesicht sagen. Dort trifft er meist auf kühles Schweigen oder bestenfalls auf Mitgefühl, weil ihn die seit nun vier Jahren durch mehrere Instanzen geführte Auseinandersetzung sichtlich mitnimmt. Aber natürlich wird über ihn geredet, wenn er nicht dabei ist. Für viele Kollegen ist er längst zur Reizfigur geworden. Als unkollegial empfinden sie es, dass andere seinen Aktenstau abzutragen hätten, als wenig bürgerfreundlich, dass Rechtsuchende seinetwegen länger warten müssten, als arrogant, dass er seine Arbeitsweise auch noch als „vorzugswürdig“ verteidige. Der „gründliche Richter“ – dieses in den Medien öfter verwendete Etikett – macht ihn zu einem wandelnden Vorwurf. Was sind dann die anderen? Die oberflächlichen Richter, jene, die buchstäblich „kurzen Prozess“ machen? Besser leben können sie mit den Attributen „der langsame“ oder gar „der faule“, obwohl kaum jemand Schulte-Kellinghaus vorwirft, es sich bequem zu machen.

Keine eiligen Fälle liegen gelassen

Für den Kampf um sein Verständnis von richterlicher Unabhängigkeit erntet er viel Unverständnis. Da versuche jemand, „sich zum Märtyrer zu stilisieren“, urteilte erst unlängst wieder ein ehemaliger Justizsenator. Auch bei der Justiz erreichte der Richter in eigener Sache bisher wenig. Das Dienstgericht in Karlsruhe attestierte ihm immerhin, keine eiligen Fälle liegen gelassen zu haben. Ansonsten wurde seine Klage gegen die Ermahnung durch die ehemalige OLG-Präsidentin Christine Hügel dort ebenso abgewiesen wie beim Dienstgerichtshof in Stuttgart.

Nun liegt der Fall beim Bundesgerichtshof in Karlsruhe, wo er Anfang Oktober verhandelt werden sollte; wegen Befangenheitsanträgen ist der Termin auf unbestimmte Zeit verschoben. Angesichts von Ablehnung und Niederlagen hätte Schulte-Kellinghaus womöglich längst aufgegeben, bekäme er nicht auch Zuspruch. Teils prominente Anwälte, Rechtsgelehrte und Ex-Richter bestärken ihn darin, einen für den Rechtsstaat hoch bedeutsamen Kampf zu führen. Er müsse unbedingt durchhalten, ermunterte ihn sogar ein einst hochrangiger Justizvertreter aus dem Südwesten.

Alle leiden unter dem Arbeitsdruck

Unstrittig ist das Problem, das dem Konflikt zugrunde liegt: die wachsende Arbeitslast in der Justiz. „Jeder von uns kennt den täglichen Erledigungsdruck“, schrieb der Landeschef des Richterbundes, Matthias Grewe, schon nach dem ersten Urteil an die verunsicherten Mitglieder. Er entstehe nicht nur durch die Dienstaufsicht, „sondern einfach durch die Menge der Akten und die Menschen, die ihre Anliegen zu uns bringen“. Man wehre sich entschieden dagegen, die richterliche Tätigkeit alleine auf Erledigungszahlen zu reduzieren, versicherte Grewe. Aber bei Beurteilungen spielten diese fraglos „eine Rolle“ – und damit bei der Karriere. Wer nicht effizient genug ist, wird als Berufsanfänger erst gar nicht zum „Richter auf Lebenszeit“ ernannt und als Älterer nicht befördert. Die Fälle müssen vom Tisch, notfalls „im Akkord“ und mit Überstunden. Seit seine Kinder aus dem Haus seien, arbeite er auch an den Wochenenden daheim, bekannte Grewe – Amtsgerichtschef in Ravensburg – unlängst als Protagonist einer Fernsehdokumentation. Der mehrdeutige Titel: „Erledigt! Die deutsche Justiz im Dauerstress.“

Früher, als Amtsrichter, hatte Schulte-Kellinghaus keine Probleme mit den Zahlen; sonst wäre er nicht ans OLG gekommen. Dort aber, als Mitglied eines Zivilsenats, wuchsen mit den Jahren seine Aktenberge. Gerade in den meist komplexen Zivilverfahren gibt es erhebliche Spielräume. Man kann gründlich recherchieren, Hinweise geben oder Sachverständige beauftragen – aber es auch straffer angehen.

Lassen sich die Parteien zu einem Vergleich bewegen, reduziert das den Aufwand oft erheblich. Dann „stimmen“ die Zahlen, und die Justizverwaltung ist zufrieden. Es interessiere sie aber wenig, „ob Menschen zu ihrem Recht kommen oder nicht“, meint Schulte-Kellinghaus. Ihn dagegen schon: Als Berichterstatter im Verfahren um die Bausparkasse Badenia zum Beispiel wirkte er einst maßgeblich daran mit, dass die vor Gericht bisher abgeblitzten Geschädigten Erfolg hatten – eine Wende in der juristischen Aufarbeitung. Ungleich weniger aufwendig wäre es gewesen, auf die abweisenden Urteile in Parallelfällen zu verweisen.

„Richter ohne Zeit wie Maurer ohne Kelle“

Als mit dem Aktenstau auch der interne Ärger immer größer wurde, veranlasste die damalige OLG-Chefin Hügel heimlich eine Sonderprüfung. Ergebnis: Schulte-Kellinghaus bewältige nur 68 Prozent des durchschnittlichen Pensums seiner Kollegen. Also setzte es eine Mahnung, seine Fallzahlen entsprechend zu steigern. Das klingt harmloser, als es ist: Hielte sich der Richter nicht daran, drohten ihm Disziplinarmaßnahmen bis zur Kürzung seiner Bezüge. Mit den besseren Zahlen, protestiert er, werde von ihm zugleich eine andere Art der Rechtsanwendung verlangt, entgegen seiner Überzeugung. Dies aber greife in die vom Grundgesetz garantierte richterliche Unabhängigkeit ein. Die Richter seien „nur dem Gesetze unterworfen“, steht dort.

Darf man sie trotzdem anhalten, so zu arbeiten, dass die für die Justiz bereitgestellten Ressourcen ausreichen? Auch unter den Richterverbänden, die sich natürlich allesamt mehr Personal wünschen, gehen die Ansichten darüber auseinander. Der konservative Richterbund hält es wohl für zulässig, die linksliberale Neue Richtervereinigung – der einst Schulte-Kellinghaus angehörte – hingegen nicht; ein „Dammbruch“ sei das Vorgehen Hügels. So sehen das auch die Unterstützer des Freiburger Richters, eine illustre Schar von Experten. Dazu gehört der Rechtsprofessor Fabian Wittreck aus Münster, der in dem Fall ein weiteres Exempel für die „lemminghafte Zahlengläubigkeit der Justiz“ sieht, oder der frühere Bundesrichter Wolfgang Neskovic: Ein Richter ohne die notwendige Zeit, mahnt er, sei „wie ein Maurer ohne Kelle“. Strafanzeige gegen Hügel wegen Nötigung erstattete der bekannte Hamburger Strafverteidiger Gerhard Strate ebenso wie der frühere Diplomat Klaus Hermann Ringwald, der einst in Stuttgart für den CDU-Ministerpräsidenten Hans Filbinger arbeitete.

Die Freiburger Staatsanwaltschaft sah indes keinen Grund für Ermittlungen, die übergeordnete Behörde auch nicht. Begründung: Die Präsidentin habe nicht mit einem empfindlichen Übel gedroht, Schulte-Kellinghaus hätte ihrer Mahnung „in besonnener Selbstbehauptung“ standhalten können. Selbst Ex-Arbeitsminister Norbert Blüm, der auf seine alten Tage aufgrund familiärer Erfahrung zum Justizkritiker geworden ist, stärkte dem Freiburger bei einer Podiumsrunde den Rücken: Gäbe es mehr Richter wie ihn, stiege auch sein Vertrauen in die Justiz wieder.

Beistand auch von Ex-Minister Blüm

Einsilbig äußert sich hingegen seit Jahren das Stuttgarter Justizministerium. Ohne dessen Rückendeckung, wird allseits vermutet, wäre Hügel kaum vorgeprescht. Doch über eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen sie hat das Ressort nach wie vor nicht entschieden. Ob einst unter Rainer Stickelberger (SPD) oder nun unter Guido Wolf (CDU) – stets ist die Auskunft die gleiche: Man warte ab, bis das dienstgerichtliche Verfahren rechtskräftig abgeschlossen sei. Da kann es schnell 2017 werden.