In Baden-Württemberg sollen bereits zum nächsten Schuljahr möglichst viele Grundschulen auf Ganztagsbetrieb umstellen. Das befürwortet die Landesregierung aus sozialen und pädagogischen Gründen. Doch niemand soll gezwungen werden.

Stuttgart - In zehn Jahren sollen 70 Prozent der Grundschulen im Land Ganztagsbetreuung anbieten, jeder zweite Grundschüler soll daran teilnehmen. So sieht es die Landesregierung vor. Dann will sie jährlich bis zu 158 Millionen Euro für Ganztagsgrundschulen zur Verfügung stellen.

 

Zunächst sind wohl kleinere Schritte zu erwarten. Gegenwärtig sind knapp 15 Prozent der Grundschulen Ganztagseinrichtungen. Das Kabinett hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der den Ganztagsbetrieb an Grundschulen regelt. Dabei können Kommunen zwischen verbindlichen oder freiwilligen Angeboten wählen. Möglich sind sieben oder acht Zeitstunden an drei oder an vier Tagen. Kleine Schulen können jahrgangs- und klassenübergreifende Gruppen bilden. Es können auch ganze Schulen umstellen. Die Regierung will jedoch das Wahlrecht der Eltern sicher stellen. Kultusminister Andreas Stoch (SPD) erklärte, dass Eltern den Schulbezirk wechseln können, wenn die zuständige Schule nicht das gewünschte Angebot mache.

Baustein für mehr soziale Gerechtigkeit

Das Gesetz soll zum kommenden Schuljahr in Kraft treten. Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) wertet die gesetzliche Verankerung des Ganztagsbetriebs an Grundschulen als „einen entscheidenden Baustein, um den Bildungserfolg von der sozialen Herkunft zu entkoppeln“. Auch schließe die grüne-rote Koalition mit dem Ausbau der Ganztagsgrundschulen eine Lücke in der Kinderbetreuung. So bekämen Eltern Sicherheit bis zum Ende der Grundschulzeit ihrer Kinder.

Der Gesetzentwurf stößt auf breite Zustimmung. Auch die CDU hatte sich dem Ausbau nicht verschlossen. Jetzt entdeckt sie jedoch zahlreiche „Ungereimtheiten“ im Gesetzentwurf. Ihr Bildungsexperte Georg Wacker befürchtet, kleine Grundschulen könnten die Anforderungen nicht erfüllen. Er vermisst Flexibilität ebenso wie ein stabiles Finanzierungskonzept.

Der Wirtschaft geht das Angebot nicht weit genug. Berufstätigen Eltern und den Betrieben nutze nur ein Angebot an fünf Tagen bis 17 Uhr, erklärt der Landeshandwerkspräsident Joachim Möhrle. Er nannte das Konzept, das auf eine Vereinbarung zwischen dem Land und den Kommunen zurückgeht, halbherzig und verlangte wohnortnahe Ganztagsschulen für alle Kinder. Auch die IHK Region Stuttgart kritisiert das langsame Tempo und die „Beliebigkeit“ der Angebote. Ihr stellvertretender Hauptgeschäftsführer Bernd Engelhardt moniert, dass die Betreuung der Schulkinder während der Ferien noch ungeklärt ist. „Fünf Tage in der Woche auch in den Ferien“, lautet die Forderung der IHK.

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wendet sich gegen zu viel Flexibilität. Die GEW-Chefin Doro Moritz hebt hervor, pädagogisch sinnvoll sei nur ein Angebot, an dem ganze Klassen teilnähmen. Nur so sei die Rhythmisierung, ein Wechsel von Unterrichts- und Freizeitangeboten sowie individueller Förderung, sowie die Qualitätssteigerung möglich.

Kultusminister will niemanden zwingen

Der Kultusminister hält zwar das Elternwahlrecht hoch, unterstreicht aber: „Aus pädagogischer Sicht ist so viel Rhythmisierung wie möglich sinnvoll“. Dennoch werde die Regierung „niemanden zu einem verpflichtenden Konzept zwingen“. Daran zweifelt die FDP. Sie argwöhnt, dass in Gemeinden mit nur einer Grundschule der Wunsch vieler Eltern nach einer Halbtagsschule auf der Strecke bleiben könnte.

Die GEW verlangt Nachbesserungen bei der Ausstattung. Schulleiter würden für das aufwendige Management des Ganztagsbetriebs mehr als eine Stunde Entlastung von der Unterrichtsverpflichtung benötigen. Auch müsse mehr Geld für die Angebote von Vereinen bereit gestellt werden, fordert Doro Moritz. Das Land finanziert den Ganztagsbetrieb durch bis zu zwölf zusätzliche Lehrerwochenstunden pro Ganztagsgruppe. Die Hälfte dieser Stunden können die Ganztagsgrundschulen „monetarisieren“, das heißt, sie können für den Gegenwert dieser Lehrerstunden Leistungen von Vereinen und externen Anbietern zukaufen. Das reiche nicht aus, moniert die GEW. Vorerst können nur Grundschulen diese Möglichkeit nutzen, erläuterte Stoch. Verschiedene weiterführende Ganztagsschulen, darunter auch Gemeinschaftsschulen, möchten diese Variante ebenfalls wählen. Das sei aber gegenwärtig noch nicht vorgesehen, sagte Stoch.

Noch zeigen sich relativ viele Eltern zurückhaltend gegenüber dem verpflichtenden Ganztagsbetrieb. Doro Moritz setzt auf die Überzeugungskraft guter Beispiele. Sie sagt, „gute und von den Eltern akzeptierte Ganztagsschulen entstehen nur, wenn sie entsprechend ausgestattet werden“. Auch der Kultusminister geht davon aus, dass mit dem Ganztagsbetrieb die Qualität der Grundschulen vorangebracht wird. Er betont, auch klassenübergreifend und bei freiwilligen Angeboten sei bessere individuelle Förderung und Vertiefung möglich.

Für die nächsten Jahre hat die Regierung kein festes Budget für den Ausbau von Ganztagsgrundschulen vorgesehen. „Wir wollen möglichst vielen Schulen die Chance geben“, sagte Stoch. Sollten unerwartet viele Kommunen Anträge stellen, müsse das Land noch einmal mit den Städten und Gemeinden über eine Priorisierung reden. Dabei sollen zuerst die Schulen zum Zug kommen, die möglichst viel Rhythmisierung anbieten. Berücksichtigt wird außerdem die Infrastruktur und eine „regional gerechte Verteilung“. Das Windhundprinzip soll laut Andreas Stoch nicht gelten.

Zunächst nur für Grundschulen

Der Entwurf zur Änderung des Schulgesetzes geht jetzt in die Anhörungsphase. Das Gesetz soll zum nächsten Schuljahr in Kraft treten. Dann wird der Ganztagsbetrieb an Grundschulen auf eine verlässliche rechtliche Basis gestellt. Weiterführende Schulen sollen folgen. Gemeinschaftsschulen sind schon jetzt als Ganztagsschulen definiert.

Die Personalkosten für den Ganztagsbetrieb trägt das Land. Je nach zeitlichem Angebot finanziert das Land zwischen sechs und zwölf Lehrerstunden pro Woche. Einen Unterschied zwischen Wahlangebot und verpflichtendem Ganztag gibt es bei der Lehrerzuweisung nicht mehr. Die Hälfte der Stunden können die Grundschulen in Geldmittel umwandeln und für die Kooperation mit außerschulischen Partnern verwenden. Für das Mittagessen sorgen die Kommunen, ebenso für die Beaufsichtigung der Kinder in der Mensa. Für die weitere Aufsicht während der Mittagspause erhalten die Kommunen vom Land einen finanziellen Ausgleich.

Kommunen, die ihre Grundschulen im September auf Ganztagsbetrieb umstellen wollen, bekunden ihr Interesse bis zum 28. März bei ihrem Schulamt. Konkrete Anträge können bis zum 30.April gestellt werden.