Nachkriegsautor Günter Grass schrieb nicht nur Weltliteratur. Er erregte auch als politischer Intellektueller Widerspruch – und machte sich einen Namen als ein Kritiker der deutschen Flüchtlingspolitik und als ein Mahner gegen Rechtsextremismus.

Stuttgart - Günter Grass ist die Politik so wichtig gewesen wie die Literatur. Der Autor der „Blechtrommel“ brachte es in den frühen fünfziger Jahren auf den Punkt, worum es den jungen Schriftstellern von damals ging: Die zeitkritische Auseinandersetzung mit dem „motorisierten Biedermeier“ der Nachkriegszeit (Erich Kästner) war ohne gleichzeitige Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit nicht möglich. Und daraus ergab sich ein Engagement weit über die Literatur hinaus. Grass spielte eine wichtige Rolle in der eher links orientierten „Gruppe 47“. Bereits 1961 beteiligte er sich an einem Sammelband mit dem Titel „Die Alternative oder brauchen wir einen neue Regierung?“, in dem auch Hans Magnus Enzensberger und Siegfried Lenz für einen demokratischen Machtwechsel und eine SPD-Regierung warben.

 

Die „Spiegel-Affäre“ und der Streit um die Notstandsgesetzgebung waren für Grass Zeichen dafür, dass die Regierung Adenauer ihre Legitimation zu verlieren begann. Was dann kam, enttäuschte Grass zutiefst. Es war nicht der Wechsel hin zu einer Regierung Willy Brandt, den er sich so sehr erhofft hatte. Es kam 1966 die Große Koalition unter dem CDU-Politiker Kurt Georg Kiesinger.

Schon im Vorfeld hatte Grass seinen Freund Brandt, der dann Vizekanzler und Außenminister wurde, vor dem „Proporz-Einerlei“ der Großen Koalition gewarnt, er sprach von lähmender Resignation und prognostizierte, dass die Jugend sich „vom Staat und seiner Verfassung abkehren und nach links und rechts driften“ werde. Mehr noch störte Grass, dass mit Kiesinger ein ehemaliges Mitglied der NSDAP Bundeskanzler werden sollte. Dieses Amt dürfe „niemals von einem Manne eingenommen werden, der schon einmal wider alle Vernunft handelte und dem Verbrechen diente, während andere zugrunde gingen, weil sie dem Verbrechen Widerstand boten“. Mit ähnlich scharfen Worten wandte sich Grass auch gegen den SPD-Politiker Karl Schiller, der Wirtschaftsminister wurde, obwohl auch er der Nazipartei angehört hatte.

Etliche Jahre zuvor hatte Grass sich in einer SPD-Wahlkampfinitiative für Willy Brandt engagiert. Im September 1961 hatte der Regierende Bürgermeister von Berlin, der Bundeskanzler werden wollte, bei einem Treffen mit Autoren gefragt, wer ihm mit Ideen für seine Reden helfen könne. „Ich, der Bürgerschreck“, erinnert sich Grass, „war der einzige, der den Finger hob.“ Daraus entwickelte sich eine Freundschaft, die bis zu Brandts Tod 1992 bestand. Es gab aber auch Irritationen. Als Brandt 1969 endlich zum Bundeskanzler gewählt wurde, gratulierte ihm der Autor und erhob zugleich Anspruch auf ein höheres Staatsamt. Aber nach Jahren der Zusammenarbeit sah der Kanzler seinen Redenschreiber kritischer und lehnte ab.

Eigentlich, so hätte man annehmen können, werde der hochpolitisierte Grass auf die 68er-Revolte der Studenten mit Begeisterung reagieren. Doch das Gegenteil war der Fall. Zwar sagte er zum Tod Benno Ohnesorgs 1968 in Berlin: „Das ist der erste politische Mord in der Bundesrepublik.“ Aber im Gegensatz zu Hans Magnus Enzensberger oder Martin Walser ließ er sich von den revolutionären Ideen der 68er nicht anstecken, er blieb immer verlässlich sozialdemokratisch. Den Revolutionären, deren Mao-Begeisterung er missbilligte, hielt er entgegen: „Ich spiele Euch gern den Prellbock gegen rationale wie irrationale Anstürme von links“. Danach verstieg sich Rudi Dutschke zu der Feststellung: „Grass zu bekämpfen ist wichtiger als alles andere.“

Obwohl sich sein Ruhm als Schriftsteller mehrte, warf Grass sich immer auf die Politik. Im Streit um die Ostverträge stand er, der gebürtige Danziger, selbstverständlich auf der Seite Brandts. Den Ausgleich mit dem Osten hatte er immer schon gesucht. Öfters reiste er in die DDR, um die Einheit der „Kulturnation“ zu wahren. Zwar war auch weiterhin kein Politiker vor beißender Kritik des Autors sicher, aber mit dem Niedergang der Studentenbewegung ging auch die politisch engagierte Literatur zurück. Heinrich Böll veröffentlichte 1975 „Die verlorene Ehre der Katharina Blum“, und Grass griff erst 1986 mit der „Rättin“ das Umweltthema auf.

So wie sie ablief, wollte ihm die Wiedervereinigung 1990 gar nicht gefallen. Er fürchtete eine Wiederkehr des deutschen Nationalismus. Als sein Buch „Ein weites Feld“ erschien, warf man ihm vor, die DDR-Verhältnisse zu verklären. In seinem 2002 veröffentlichten Werk „Im Krebsgang“, in dem er den Untergang des Flüchtlingsschiffes „Wilhelm Gustloff“ schilderte, durchbrach er das Tabu, das auf dem Thema Flucht und Vertreibung der Deutschen gelegen hatte.

Wenn man dem politischen Intellektuellen einen Vorwurf machen kann, dann den, dass er sehr spät, vielleicht zu spät, seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS offenbarte. Er hätte da ruhig mutiger sein können, denn als er der Organisation beitrat, war er 17 Jahre alt. Das hätte man ihm eher verziehen als das späte Bekenntnis.