„Eintagsfliegen“ heißt der Lyrikband, der zum 85. Geburtstag von Günter Grass erscheint. Er enthält auch das Israel kritisierende Gedicht „Was gesagt werden muss“.

Stuttgart - Lyrische Alterswerke sind in der Regel Zeugnisse des Rückzugs und der stoischen Lebensbilanz, stilistisch verbunden mit einer Mäßigung des Tons und einer neuen Leichtigkeit. Nicht so bei Günter Grass, der auch an seinem 85. Geburtstag heute noch vom Ehrgeiz des Praeceptor Germaniae getrieben wird und sich mit reichlich „Zorn“ munitioniert hat, um in seinen neuen gesinnungsfreudigen Versen der Nation die Weltlage zu erklären. Mit seinen zeitkritischen Interventionen erhebt Deutschlands berühmtester Autor seit einem halben Jahrhundert einen Allzuständigkeitsanspruch, der in schöner Regelmäßigkeit heftige Reaktionen provoziert. Und auch wenn der Titel seines neuen Gedichtbands „Eintagsfliegen“ Bescheidenheit signalisiert, so wird sie sogleich weggewischt durch den Prediger-Ton, der sich in jedem zweiten Gedicht unangenehm vordrängt. Leider hat sich Grass im neuen Buch nicht vorgenommen, seinen Satzbau und seine formalen Defizite zu verbessern, sondern die Menschheit.

 

Als er im April dieses Jahres seine grobschlächtige Polemik gegen die „Atommacht Israel“ als „Gedicht“ deklarierte („Was gesagt werden muss“), hatte er damit einen neuen Typus politischer Gelegenheitsdichtung erfunden. Dieses „Gedicht“ verband rhetorische Fragen mit Halbwahrheiten und Unterstellungen zu einer bräsigen Melange der Meinungsfreude. Grass hatte seine dürftigen Sentenzen einfach zu Verszeilen gebrochen und dadurch den Poesie-Status erschwindelt. Indem er seine prosaischen Mutmaßungen über einen eliminatorischen „Erstschlag“ Israels mit dem Ziel der „Auslöschung“ Irans die Form eines Gedichts gab, wollte er sein privates Israel-Tribunal in den Rang höherer Wahrheit erheben. In seinem in rotes Leinen gebundenen Gedichtband „Eintagsfliegen“ finden wir nun den Text „Was gesagt werden muss“ wieder – aber die hier angebrachten kleinen Korrekturen haben die poetische Dürftigkeit des Werks nicht beseitigen können.

Unter den neuen Gedichten ist viel Misslungenes

Dass der „Zorn“ seine Lieblingsressource geblieben ist, zeigt Grass in einem zweiten Gedicht mit ebenso anti-israelischer Ausrichtung: Im Loblied auf Mordechai Vanunu, den israelischen Nukleartechniker, der 1986 das israelische Atomprogramm im Ausland publik gemacht hatte und dafür viele Jahre im Gefängnis büßen musste, rühmt er den „Helden“ der neuen Zeit als „Vorbild“ für die Welt.

Neben diesen Invektiven gegen Israel finden sich unter den 87 Gedichten der „Eintagsfliegen“ nur zwei Texte, die als dezidiert politische Gedichte gelten können. Es sind mehr oder minder missglückte Gesänge über Europa, deren einer in lupenreinen Hexametern daherkommt, der andere aber sich leider der flachsten Stammtischweisheiten bedient: „Sogar in Brüssel, wo Beamte geschäftig, traumlos / und einzig besorgt ums flüchtige Geld sind, / finde ich dich, mein Europa.“

Im Grunde knüpft Grass mit den „Eintagsfliegen“ an seine Poetik des „Gelegenheitsgedichts“ an, die er bereits 1961 in einem launig-hedonistischen Aufsatz für die „Akzente“ formulierte und gegen die ihm verhassten „Labordichter“ richtete. „Eigentlich bin ich Lyriker“, hat Grass einmal gesagt, „fast alle Romane haben ihre Keimzelle in einem Gedicht.“ Während er aber in seinen späten Prosaarbeiten, etwa seiner empathischen Annäherung an „Grimms Wörter“ (2010), seine ästhetischen Potenzen unter Beweis zu stellen vermag, geht er in seinen späten Gedichten den Weg des geringsten Widerstands.

Das Verhältnis von Poesie und Macht

Wer sich die Mühe macht, Grass’ Gelegenheitsgedichte der späten fünfziger Jahre mit den „gelegentlichen Gedichten“ der „Eintagsfliegen“ zu vergleichen, der wird sich grämen über den eklatanten Verlust an metaphorischer Fantasie und Einbildungskraft, der das Vergnügen an den „Eintagsfliegen“ erheblich trübt. In seinem „verspäteten Schutzbrief für Oskar Pastior“, einer Liebeserklärung an den Dichter, dessen posthum bekannt gewordene Tätigkeit als Informant des rumänischen Geheimdienstes vor zwei Jahren eine Diskussion über das Verhältnis von Poesie und Macht aufwirbelte, gewährt Grass dem toten Freund die Absolution. Dabei scheint ihm nicht aufgefallen zu sein, dass ein „Schutzbrief“ traditionell von einem Herrscher an ausgewählte Untertanen vergeben wird. Nicht nur diesem Gedicht fehlt es an jenem Sprachzweifel, den Grass rhetorisch allzu gerne für sich reklamiert.

In seinem allerersten Buch, dem Lyrikband „Die Vorzüge der Windhühner“ von 1956, gelang dem jungen Grass noch die Verbindung von zarter surrealistischer Bildlichkeit und Gegenwartsreflexion, von sinnlicher Gegenständlichkeit und Fantastik. Dieses kombinatorische Vermögen des Dichters Grass ist an nur wenigen Stellen der „Eintagsfliegen“ noch zu spüren, wenn Grass nämlich absieht von seinen politischen Besserwissereien und sich konzentriert auf die Fähigkeit eines Gedichts, im allerkleinsten Detail eine allgemeingültige Erfahrung aufblitzen zu lassen. Wenn der erhobene Zeigefinger des Moralisten vom Dienst suspendiert wird und der Dichter sich auf die ureigene Erfahrung konzentriert, dann entstehen Miniaturen, die als poetische Inventur des Daseins anrühren.

Eine kleine Momentaufnahme der Liebe im Alter („Gewagte Liebe“) ist hier mehr wert als hundert Posaunenstöße des „zornigen“ Weltweisen: „Spät, nach letzten Nachrichten / aus dem Küchenradio, / zählen wir einander / unser Häuflein Tabletten zu, / die alle rezeptpflichtig sind./Manchmal jedoch, / wenn es uns ankommt, / heiß, plötzlich, und unwiderstehlich, / schlucke ich ihre, sie meine. / Dann warten wir ab – Seit an Seit – / und wollen erleben, was uns geschieht.“