Der „Guide Michelin“ sollte auch an sich selbst arbeiten, will er weiter ernst genommen werden, kommentiert unser Autor Matthias Ring.

Lokales: Matthias Ring (mri)

Stuttgart - Auszeichnungen von Gourmetführern sind eine harte Währung für die Spitzenrestaurants – und am meisten zählt der „Guide Michelin“. Zwar handelt es sich im Prinzip nur um eine Sammlung von kurz kommentierten Adressen, aber wer einen Stern hat, kann sicher sein, dass mehr Gäste auf ihn aufmerksam werden. Zwei Sterne strahlen bis weit über die Region hinaus, und mit drei Sternen gehört man zur Weltspitze.

 

Umso wichtiger ist es für die Gourmetszene, dass gewissenhaft und verlässlich geprüft wird. Manchen der Führer wird ohnehin unterstellt, dass sie nur Datenbanken aktualisieren und nicht zwingend jedes Jahr ein bewertetes Restaurant neu besuchen. Der deutsche „Guide Michelin“ mit seinem Dutzend Inspektoren scheint da über jeden Verdacht erhaben. Umso ärgerlicher ist es nun, dass mit der Alten Vogtei in Köngen im Kreis Esslingen ein Restaurant neu mit einem Stern geehrt wurde, obwohl es seit dem Sommer 2018 nicht mehr in Betrieb ist.

Mehrmals sei ein Inspektor da gewesen, wie versichert wird, nur hat man sich eben gutgläubig auf die Aussagen der Ex-Betreiber verlassen, dass wegen einer Sanierung nur vorübergehend geschlossen sei. Dabei hätte ein kurze Recherche im Internet genügt: Die Homepage ist nicht zu finden, über Online-Portale ist das Restaurant nicht mehr buchbar, der letzte Post auf der Facebook-Seite der Alten Vogtei ist vom Mai 2018.

Was der Guide Michelin tun muss, um weiter ernst genommen zu werden

Schlussendlich ist dem „Guide Michelin“ mangelnde Sorgfaltspflicht vorzuwerfen, die besonders bei einer neuen Adresse gelten sollte. Den Gourmetführer deswegen unter Generalverdacht zu stellen würde zu weit gehen, die Rekorde aber mit noch mehr Sternerestaurants, die auch dieses Jahr vermeldet werden, sind dadurch relativiert.

Es hat aber auch sein Gutes, wenn nicht nur Rekorde zählen. Der französische „Guide Michelin 2019“ kann zwar mit 632 Sternerestaurants so viele wie nie zuvor verkünden, aber ebenso hat er auch sechs Zweisterne- und drei Dreisternerestaurants abgewertet. Sterne bilden die Spitze ab, nicht die Breite, die sich – hoffentlich – nach oben orientiert. Und an der Spitze kann es eben nicht immer nur aufwärtsgehen, will der „Guide Michelin“ auch morgen noch als Gradmesser ernst genommen werden.

Außerdem: Die Küche entwickelt sich weiter, viele Gäste wollen heute anders essen, leichter und lockerer, weswegen die Gourmetführer eine Abkehr von fetten Pasteten und gesteiften Tischdecken zu begrüßen haben – beim allgemeinen Trend hin zum zwanglosen Casual Fine Dining.

Es geht auch ohne Auszeichnung

Dass dies auch bestens ohne Auszeichnung der Michelin-Inspektoren funktionieren kann, beweisen Fritz & Felix, die lässigen Nachfolger des einstigen Zweisternerestaurants in Brenners Parkhotel in Baden-Baden, einer der ersten Adressen Europas, wo es kleine Köstlichkeiten statt großer Menüs gibt. Denn neue Gäste braucht die Spitzengastronomie dringend, gerade in Deutschland. Nach wie vor gilt das Bonmot: Der Franzose fährt mit seinem rostigen Peugeot zum Sternerestaurant – und der Deutsche mit seinem Porsche zum Discounter.

Oder nehmen wir einen Vergleich aus dem Wertungsjahr 2018: Nachdem der französische Dreisternekoch Paul Bocuse verstorben war, erhielt er ein Staatsbegräbnis mit allen Ehren. Als der deutsche Dreisternekoch Christian Bau mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, gab er der „Süddeutschen Zeitung“ ein Interview. Darin sagte er: „Die Politik verachtet uns. Wir sind für diese Leute die ,Gourmettempel‘, die Dekadenten mit dem Hummer, dem Kaviar, den Trüffeln. Das meiden Politiker wie der Teufel das Weihwasser.“ Spitzenküche muss man sich eben nicht nur leisten können, sondern auch wollen.

matthias.ring@stzn.de