Zwei Journalisten wollen bei der Entführung eines Kindes von Anfang an dabei sein. Das wäre dann Schweinejournalismus übelster Art. Aber kann man dem Erzähler in „Untat“ trauen bei seinem Making-of-Bericht einer fiesen Reportage?

Stuttgart - Es passiert ein Verbrechen und wir sind dabei. Wir erleben es aus der Sicht professioneller Augenzeugen, die hier allerdings die Grenze zur Mittäterschaft überschreiten, unter ständigen Beteuerungen, eben das zu vermeiden. Nein, Korrektur, sie überspringen die Grenze, mit Schwung, gleich am Anfang.

 

Guido Rohms „Untat“ erzählt, wie zwei Journalisten sich an einen Typen namens Oscar hängen, der bei jeder Gelegenheit neue, stets widersprüchliche Schwänke über sein Vorleben, seine Pläne, seine innere Landschaft auftischt. Sie wollen aus der garantiert ersten Reihe von einer Kindesentführung berichten, die der passionierte Porno-DVD-Glotzer plant. Embedded Journalism im Dreck der kriminellen Heimatfront, sozusagen.

Zerfleischungsrunden einer Hassliebe

Aus dieser Grundkonstellation könnte Rohm, Jahrgang 1970, einen knackigen Anprangerkrimi rund um die Verwahrlosung journalistischer Sitten entwickeln. Auch eine auf den Aststumpf des Realismus gepfropfte Satire auf die Erlebnisgeilheit der Mediengesellschaft wäre denkbar.

Aber Rohm liefert nicht einfach eine Weiterschreibung des „Geiseldramas von Gladbeck“, das stellvertretend für journalistische Grenzüberschreitungen ins kollektive Gedächtnis einging. Rohm, dessen bisherige Kriminalerzählungen allesamt Zerfleischungsrunden einer Hassliebe zu Gewalt- und Verbrechensfiktionen waren, greift die Erzählgewissheit des Krimis grundsätzlich an. Er geht gegen die Illusion vor, Verbrechen seien ohne Korruption des Lesers vergnüglich erzählbar.

Vorsicht vor diesem Lausbubenton

Zwei Journalisten „heuern bei Oscar, einem ‚bösen Buben’ an“, lesen wir bereits auf dem Buchrücken. Das klingt nach klaren Verhältnissen. Aber der Stil reißt uns vom Fleck weg in schwindelnde Ungewissheit. Der Journalist, der „Untat“ konstant in der Ersten Person Plural erzählt (oder wechseln die beiden Reporter einander ab?), schildert Vorkommnisse und Gedanken mit einer sprachlich seltsam schlichten, verquält koketten Naivität.

Das ist kein erwachsener Erzählton, das ist ein Lausbubenerzählton, aber nachgestellt von einem Taktiker, der ihn nicht authentisch beherrscht, jedoch unbedingt für sich nutzen will. Eventuell tut er das aus Gründen von Selbstblendung und –betrug. Dieser Erzähler will auf keinen Fall wissen, was er jederzeit wissen konnte oder sicher gewusst hat.

Der böse Plural der Schlaudoofen

Das ‚Wir’ dieses Romans sägt schon nach einer Seite an den Lesernerven wie eine falsch gehaltene Kreide auf der Schiefertafel. Kein Spalt zwischen den Journalisten wird sichtbar, keine individuelle Charakterisierung. Rohm lässt seinen Erzähler einen unheimlichen Horrorplural verwenden, als spräche da ein archetypisches Doppelwesen wie das feiste Schlaudoofduo Tweedledum und Tweedledee (und vielleicht wirklich dessen Gangstervariante aus dem Batman-Universum).

Das „Wir“ klingt stets wie eine Camouflage bösen Schabernacks und individueller Verantwortungsabweisung. Alles läuft nach dem Motto: der andere war’s auch, also nicht bloß ich, mithin jeder, womit bewiesen wäre, eigentlich keiner.

Kein Wort dieses Typen darf man glauben

Stimmt irgendetwas von dem, was dieser Erzähler berichtet? Die Frage drängt sich auf, und nicht nur dann, wenn er wieder mal beteuert, sie als Journalisten wüssten den nötigen Abstand von Beobachter und Täter zu wahren. Oscar lügt auf jeden Fall ganz offensichtlich. Was davon durchschauen die Reporter, was nicht, was ahnen sie?

Sie wirken in dem Haus im Wald, in das Oscar ein kleines Mädchen verschleppt, beinahe selbst wie Gefangene. Verdrängen sie das nach Kräften und schlüpft es doch in ihren Bericht, oder provozieren sie subtil diesen Eindruck beim Leser, um sich selbst Entschuldigungen zu verschaffen? Die Sprache von „Untat“ ist in ihrer Bastardhaftigkeit aus kindlichem Abzählreim und moralhuberndem Kalenderspruch undeutbar, ihr ist keine gültige Erkenntnis abzuringen. Diese Sprache ist also als höchst Verdächtige, aber Ungreifbare die eigentliche Hauptfigur des Romans.

Dreckige Fantasien aus dem Elektromarkt

Steht da nur ein einzelner Journalist an Oscars Seite, der sich schizophren gebärdet, um Verantwortung auf ein zweites Paar Schultern laden zu können? Existiert denn eigentlich Oscar, dieser zwischen Jovialität, Vulgarität und Brutalität flackernde Kobold?

Beständig glotzen die Journalisten mit und ohne Oscar DVDs aus der untersten Schublade, Sex und Gewalt zur Erbauung der Verrohten. Aber deren Bilder gehen ihnen mit den Nachrichten und dem Entführungsszenario beständig durcheinander. Das ist etwas anderes als allgemeine Medienkritik, mehr als ein sardonischer kleiner Fingerzeig auf das durchschnittliche Fantasieniveau im Filmregal des Elektromarkts und dessen Querverbindungen zur Horrorshow der Nachrichten.

Kippen und Schweinefutter

Rohm mischt mögliches Geschehen, konsumierte Fiktionen, taktische Lügen und krankhafte Wahrnehmungskrümmungen zu einer im Gehirnmagen rumorenden Schweinefutterpampe, die uns die letzten paar vergnügt gelesenen Krimis gleich mit auskotzen lassen soll. Wem hört ihr da eigentlich zu, von was für Typen und Ereignissen und von welchen Erzählern lasst Ihr Euch durch welche Filter was ins Gemüt schütten?

Das ist darum kein käsiger Akt der Leserbeschimpfung, weil man ahnt, dass Rohm selbst nicht fertig ist mit dem Genre, dem Schmutz, den Filmen und den Büchern. Weil man den Verdacht hegt, dass er da – Feingeister, aufgemerkt, eines Eurer liebsten Literaturprüfungskästchen ist abzuhaken! – auch von sich selbst erzählt. Beständig rauchen die Figuren in „Untat“, belehren sich und einander mit jeder Kippe, dass das ungesund und unschön ist, und paffen dann noch mehr. Rohm, das enthält er einem schon in seiner Kurzbiografie auf dem Blog „Guido Rohms gestammelte Notizen“ nicht vor, ist starker Raucher.

Guido Rohm: Untat. Conte Verlag, St.Ingbert. 134 Seiten, 10,90 Euro.