Esslingen - Das Selbstbewusstsein Freier Reichsstädte war stets ein ganz besonderes, und es ist bis heute zu spüren. In Esslingen, Reutlingen und Ulm zeigt sich die lebendige Tradition alle Jahre wieder an Schwörtagen. Sie gelten als Demonstrationen kommunaler Selbstregierung, ihre Wurzeln reichen bis ins Mittelalter zurück. Und sie sind in allen drei Kommunen Ausdruck einer Stadtgemeinschaft, die sich gemeinsamen Werten verpflichtet fühlt. Nun hat die Kulturministerkonferenz der Länder auf Empfehlung eines Expertenkomitees der deutschen Unesco-Kommission die Schwörtagstraditionen in Esslingen, Ulm und Reutlingen in das bundesweite Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes aufgenommen. In den Rathäusern versteht man diese Auszeichnung als Verpflichtung, die Tradition stets auf der Höhe der Zeit mit Leben zu erfüllen. Dass in Coronazeiten die gewohnten Feierlichkeiten in diesem Jahr nicht möglich sein werden, soll diesem Anspruch keinen Abbruch tun.
Geist der Tradition in Gegenwart weitertragen
Vor zwei Jahren hatten die drei einstigen Reichsstädte die Aufnahme in die Unesco-Liste des immateriellen Kulturerbes in Deutschland beantragt. Die Professorin Eva-Maria Seng von der Uni Paderborn, die den Antrag begleitet hatte, war nicht überrascht, dass man offene Türen einrannte: „Diese spezifische Form der Vergesellschaftung durch gegenseitigen Schwur der städtischen Bürgergemeinde und der Exekutivorgane der Städte, deren Wiederbelebung nach dem Zweiten Weltkrieg und deren Weiterentwicklung unter neuen demokratischen Vorzeichen bilden ein Beispiel, wie es gelingt, Bräuche und Rituale der Vertrautheit, Wiedererkennung und Strukturierung des Ortes und Raumes mit neuen Elementen zu verknüpfen beziehungsweise diese zu integrieren, um so dem Erstarren in bloßer Folklore zu begegnen.“ Wie die Oberbürgermeister Jürgen Zieger (Esslingen), Thomas Keck (Reutlingen) und Gunter Czisch (Ulm) findet auch Seng: „Es gilt, an die Vergangenheit anzuknüpfen und den Geist dieser Tradition in die Gegenwart weiterzutragen.“ Und Czisch betont: „Wir müssen uns der demokratischen Traditionen mehr denn je vergewissern. In einer immer heterogener werdenden Stadtgesellschaft können sie eine identitätsstiftende Klammer über alle Unterschiede hinweg sein.“
Stadtgesellschaftlichen Kern der Feiern erhalten
Für OB Jürgen Zieger ist die Würdigung Anerkennung und Herausforderung zugleich, wie er im gemeinsamen Pressegespräch betont: „Die Idee der kommunalen Selbstverwaltung mit einer starken Stimme der Bürgerschaft und einem regelmäßig erneuerten Bekenntnis von Oberbürgermeister und Gemeinderat zu den Statuten der Stadtgemeinschaft lebt. Übertragen auf die politischen Regelungen der heutigen Zeit heißt dies: In den Kommunen müssen Dialog, Partizipation und die politische Meinungsbildung über sämtliche Generationen, Instrumente der Teilhabe, Integration und des gemeinsamen Miteinanders ständig gelebt und gepflegt werden. Nur dann kann es gelingen, auf breiter Basis mit Gemeinsinn von Bürgerschaft, Gemeinderat und Verwaltung der Stadt Bestes zu verfolgen und zu erreichen.“ Zieger ist überzeugt, dass dieser Gedanke in Esslingen sehr lebendig ist – etwa in den Bürgerausschüssen: „Jeder Gemeinderat würde es sich dreimal überlegen, ehe er gegen deren Wunsch und Willen entscheidet.“
Die Aufnahme in die Unesco-Liste wollen die drei Kommunen nutzen, um ihre Schwörtagstraditionen noch stärker zu profilieren. „Zugleich müssen wir sicherstellen, dass bei aller nötigen Anpassung an gewandelte Einstellungen in der Bevölkerung der historische und stadtgesellschaftliche Kern der Feiern erhalten bleibt“, findet OB Zieger. Dass sich eine Stadtgesellschaft ihrer gemeinsamen Werte versichert, sei unerlässlich: „In Esslingen leben Menschen aus 127 Nationen friedlich zusammen. Das ist keine Selbstverständlichkeit und das Merkmal einer Friedensstadt, als die wir uns verstehen.“ Aus dem reichsstädtischen Geist leitet Zieger große Verantwortung ab – für die Zukunft und weit über Esslingen hinaus: So ist der Haecker-Preis für politischen Mut und Aufrichtigkeit für ihn ein starker Beweis für die Ernsthaftigkeit dieses Anliegens.
Neuer schwäbischer Dreier-Städtebund?
Den Gedanken, dass die einstigen Reichsstädte die gemeinsame Würdigung ihrer Schwörtagstraditionen zum Anlass nehmen könnten, einen neuen schwäbischen Dreier-Städtebund zu schmieden, quittieren die drei Rathaus-Chefs mit Schmunzeln – dem Städtetag wolle man keine Konkurrenz machen. Dagegen sei es selbstverständlich, auch mal zu schauen, wie die anderen ihre Schwörtagstraditionen pflegen. In Coronazeiten ist an die klassischen Veranstaltungsformate mit Zehntausenden Besuchern nicht zu denken – allenfalls im ganz kleinen Rahmen will man in Ulm und Reutlingen auch in diesem Jahr die Tradition pflegen. Esslingen hat sein Bürgerfest inklusive Schwörtag bereits abgesagt. „Wenn die Pandemie nicht wäre, wäre auch die Aufnahme in die Kulturerbe-Liste ein Grund zum Feiern. So können wir uns leider nur still freuen“, bedauert der Reutlinger OB Thomas Keck. Aber vielleicht gibt es ja nochmal Grund zum Feiern. Denn auf die Frage, ob auch ein Platz in der Unesco-Liste des immateriellen Weltkulturerbes angestrebt wird, antwortet Zieger für alle: „Na klar!“
Blick zurück in die Historie
Öffentlicher Eid Schwörtagsfeiern zählen zu den ältesten kommunalen Traditionen. Sie waren Ausdruck der besonderen politischen Kultur in den Freien Reichsstädten, die sich weitgehend selbst regierten und so eine gewisse Unabhängigkeit wahren konnten. Ausdruck der kommunalen Selbstregierung war der öffentliche Eid von Bürgermeister, Rat und Bürgerschaft auf die Stadtverfassung. Mit dem Verlust der reichsstädtischen Freiheiten verschwanden in napoleonischer Zeit die Symbole dieser Tradition. In Esslingen blieb das Schwörhaus bestehen, der Schwörbalkon wurde jedoch abgebaut.
Bürgerfest Esslingen hat die Tradition der Schwörtage 1990 unter dem damaligen OB Ulrich Bauer wiederbelebt. Im Zentrum steht der Schwörakt, mit dem sich der Oberbürgermeister und der Gemeinderat auf die Stadtverfassung verpflichten. Der OB legt der Bürgerschaft Rechenschaft über das vergangene Jahr ab und stellt sein weiteres Programm vor. In Esslingen bildet der Schwörtag den Auftakt zum traditionellen Bürgerfest.