Die Forderung des Grünen-Covorsitzenden Robert Habeck, bis zu 4000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge nach Deutschland zu holen, polarisiert – auch den baden-württembergischen Ministerpräsidenten und seinen Innenminister.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)

Stuttgart - Wenn das so geplant war, hat der Grünen-Vorsitzende Robert Habeck mit seinem Vorschlag, unbegleitete Kinder aus den griechischen Flüchtlingslagern zu holen, einen Coup gelandet. Unterstützt wird er von Kirchen und Sozialverbänden. Jede Menge Ablehnung kommt hingegen von Union und FDP. Ein Überblick.

 

Warum löst der Vorstoß ein solch großes Echo aus? Die Forderung von Robert Habeck ist nicht neu – doch sind die Emotionen gewaltig. Warum? Vor allem weil Weihnachten vor der Tür steht. In dieser Zeit lösen die trostlosen Bilder aus den Lagern noch mehr Entsetzen aus als ohnehin schon. Hinzu kommt, dass die politischen Gegner angesichts des Höhenflugs der Grünen nervös sind, weil Habeck weitere Punkte machen könnte. Also halten sie dagegen.

Welche Chance auf Realisierung hat der Vorschlag? Gemessen an den Reaktionen von Bundesregierung und Innenministerium dürfte der Habeck-Plan vorerst nicht realisiert werden. Eine ganze Armada von Innenpolitikern der Union hat sich bereits dagegen ausgesprochen. Demnach wird ein deutscher Alleingang abgelehnt. Selbst die SPD-Vorsitzende Saskia Esken äußerte sich nur sehr verhalten – den Habeck-Plan wollte sie nicht offen unterstützen.

Welche Haltung zeigt die baden-württembergische Landesregierung? Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) zeigt sich grundsätzlich bereit, Betroffene in den Südwesten zu holen, er sieht sich aber nicht am Zug. „Es ist Angelegenheit der Bundesregierung und nicht der Landesregierung, ein Sonderkontingent der Länder für die Aufnahme von Flüchtlingen zu bestimmen“, sagte er unserer Zeitung. „Wenn sich jedoch die Bundesregierung dazu entschließen würde, wäre Baden-Württemberg bereit, Kinder aufzunehmen“, betonte Kretschmann. „Die Situation auf den griechischen Inseln ist unerträglich.“ Habeck hatte darauf verwiesen, dass Berlin und Thüringen erklärt hätten, zur Verfügung zu stehen – ebenso die Grünen in Baden-Württemberg.

Der grüne Sozialminister Manne Lucha hatte Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) schon im November einen Brief geschrieben und den Willen signalisiert, „dass Baden-Württemberg ein Kontingent von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen aufnehmen wird – auch wenn wir bereits jetzt schon die entsprechend vereinbarte Aufnahmequote übererfüllen“.

Innenminister Thomas Strobl (CDU) schlägt zwar einen verständnisvolleren Ton an als viele seiner Parteikollegen, lehnt den Habeck-Vorschlag aber dennoch ab: „Die Bilder, die man von dort sieht, können einen nicht kalt lassen: Europa muss schnell eine menschliche Lösung finden“, mahnte der stellvertretende Ministerpräsident gegenüber unserer Zeitung. „In einem unabgestimmten deutschen Sonderweg sehe ich die Lösung freilich nicht – das ist eine europäische Herausforderung, die wir mit der großen Kraft Europas lösen möchten.“

Wie ist die Lage in den griechischen Lagern? Um die deutsche Debatte ins rechte Licht zu rücken: Nach Angaben des Ministerpräsidenten Kyriakos Mitsotakis nimmt Griechenland pro Tag 400 bis 500 Menschen auf. Für das neue Jahr rechnet er mit 100 000 weiteren Ankömmlingen über die Türkei. Schon jetzt ist die Situation vor allem in den Lagern auf den griechischen Ägäis-Inseln desolat, weil die Behörden den Andrang nicht mehr bewältigen. Neben der Beengtheit tun sich gewaltige Versorgungs- und Hygieneprobleme auf. Der Winter verschärft die Lage noch. Humanitäre Organisationen berichten über dramatische Zustände.

Nach Regierungsangaben aus Athen hausen in den Camps gut 41 000 Menschen – mehr als je zuvor seit Inkrafttreten des Flüchtlingspakts der EU mit der Türkei im März 2016. Noch im April wurden auf allen Ägäis-Inseln lediglich 14 000 Migranten gezählt. Das UN-Flüchtlingshilfswerk spricht von mehr als 4400 Kinder und Jugendliche, die ohne Eltern nach Europa kamen. Davon sei lediglich jedes vierte Kind altersgerecht untergebracht. Zum Beispiel wurden etwa 500 Kinder mit fremden Erwachsenen in ein großes Zelt des berüchtigten Moria-Camps auf Lesbos verfrachtet – und auf Samos wechselten sich mehr als ein Dutzend Mädchen ab, um in einem kleinen Container zu schlafen, während andere Kinder auf Containerdächern übernachteten.

Allein auf Lesbos leben derzeit rund 15 000 Migranten. Athen hatte unlängst angekündigt, die drei größten Lager Lesbos, Chios und Samos in der Ostägäis Zug um Zug zu schließen und durch neue Einrichtungen mit Aufnahmekapazitäten von je mindestens 5000 Menschen zu ersetzen, in denen nach der Verschärfung des Asylrechts auch die Verfahren beschleunigt werden können. 10 000 Asylsuchende sollen 2020 von den Inseln in die Türkei abgeschoben werden. Wer gute Chancen auf Asyl hat, werde auf das Festland gebracht – gut 20 000 Migranten könnten in den nächsten Monaten davon profitieren.

Was kommt noch auf Europa zu? Infolge des Einmarsches der Türken in Nordsyrien und des Vordringens der syrischen Armee im Norden baut sich eine immer größere Flüchtlingswelle auf. Präsident Recep Tayyip Erdogan sagte, dass gut 80 000 Menschen durch Bombardements aus der syrischen Provinz Idlib vertrieben worden und auf dem Weg in die Türkei seien. Die türkische Hilfsorganisation IHH spricht sogar von 120 000 Menschen. Türkische Sicherheitskräfte haben binnen einer Woche rund 3000 Migranten festgehalten – freilich aus zahlreichen Nationen wie etwa Afghanistan. Ankara plant nun Zeltlager auf syrischer Seite – etwa nahe der Ortschaft Killi 13 Kilometer vor der Grenze. Seit Beginn des Bürgerkrieges in Syrien hat die Türkei 3,7 Millionen Flüchtlingen Schutz gewährt.