Baden-württembergische Unternehmen suchen händeringend versierte Mitarbeiter aus den Fachbereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Vor allem Bewerber aus dem Ausland verkleinern die riesige Lücke.

Stuttgart - Unternehmen lassen kaum eine Gelegenheit aus, um über den Fachkräftemangel zu klagen. Besonders im Mint-Bereich – also bei Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – sind die Lücken groß. Bei welchen Berufen herrscht Knappheit? Und können Mitarbeiter mit ausländischen Wurzeln die Probleme reduzieren? Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick:

 

In welchen Mint-Berufen gibt es Nachwuchssorgen?

Ganz oben auf der Liste der Engpassberufe steht – wenig überraschend – die Altenpflege. Aber beinahe genauso schwierig ist es, Fachkräfte für Kältetechnik, für Mechatronik und für Bauelektrik zu finden. Letztere gehören zu den Mint-Berufen. Auch technische Servicekräfte in Wartung und Instandhaltung sowie Maschinen- und Anlagenführer werden gesucht. In 352 von insgesamt 801 Berufen gibt es aktuell Engpässe, hat das Bundeswirtschaftsministerium ausgerechnet. Tendenz steigend. Ein besonders großer Bedarf besteht bei Fachkräften mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung. Natürlich werden Ingenieure und Informatiker gesucht. Doch weil die Zahl der Studienabsolventen zuletzt gestiegen ist, hat sich hier die Lage etwas entspannt – zulasten der Ausbildungsberufe.

Wie sieht es in den Unternehmen aus?

Viele Unternehmen im Südwesten haben offene Stellen im Mint-Bereich – manche bis zu 1000. Sie suchen überwiegend Akademiker: Maschinenbauer, Elektrotechniker, IT-Spezialisten, Elektroniker, Software-Entwickler oder Applikationsingenieure – die Liste ließe sich verlängern. Es dauert immer länger, bis der Wunsch-Mitarbeiter gefunden ist. „Ein halbes Jahr vergeht schnell. Und dabei ist die Zeit von der Vertragsunterzeichnung, bis ein neuer Mitarbeiter seine Stelle antreten kann noch nicht eingerechnet“, heißt es etwa beim Kabelhersteller Lapp in Stuttgart. Dies sei deutlich länger als noch vor zwei oder drei Jahren. Ähnlich ist auch die Lage beim Sensorhersteller Sick in Waldkirch bei Freiburg: „Insbesondere Stellenprofile mit spezifischen technologischen Kompetenzen, von denen nur sehr wenige verfügbar sind, können durchaus einige Monate benötigen, in einigen Fällen auch bis zu einem Jahr, um besetzt zu werden“. Dass die befragten Unternehmen vor allem Akademiker auf dem Arbeitsmarkt suchen und weniger Fachkräfte, hat einen einfachen Grund: Sie bilden ihre Fachkräfte selbst aus. Dazu gehört der Zulieferer Läpple: „Wir haben aber auch vermehrt Bedarf an Bewerbern mit klassischen gewerblichen Ausbildungsberufen. Hier sind wir uns der Bedeutung der eigenen Ausbildung bewusst“. Läpple bildet nicht nur eigene Azubis aus, sondern auch die anderer Unternehmen. Denn beileibe nicht alle Unternehmen im Südwesten bilden selbst ihren fachlichen Nachwuchs aus.

Was sagen die Wirtschaftsforscher?

Die Fachkräftelücke im Mint-Bereich in Baden-Württemberg liegt im Oktober 2018 auf Rekordniveau, hat das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln exklusiv für unsere Zeitung errechnet. „Die Fachkräftelücke bei Mint-Berufen ist im Südwesten mittlerweile auf 58 400 gestiegen ist, das sind fast doppelt so viele wie vor fünf Jahren. Zweidrittel davon entfallen auf Ausbildungsberufe; hier nehmen die Engpässe besonders stark zu“, sagt Axel Plünnecke, Leiter des Kompetenzfelds Bildung, Zuwanderung und Innovation beim IW unserer Zeitung. Errechnet wird die Mint-Lücke übrigens als Differenz zwischen den gemeldeten offenen Stellen und den Arbeitslosen.

Wie gehen Unternehmen vor, um neue Mitarbeiter zu finden?

Die Unternehmen nutzen einen ganzen Maßnahmenstrauß. Natürlich gehören dazu klassische Stellenausschreibungen, Jobbörsen und soziale Medien wie Xing und LinkedIn. Die Unternehmen zeigen Präsenz an Hochschulen und knüpfen frühzeitig Kontakt zu potenziellen Mitarbeitern. Der Zulieferer Elring-Klinger etwa vertraut zudem auf konzerneigene Mitarbeiterempfehlungsprogramme. EBM-Papst setzt sogar eigene Mitarbeiter als Models ein – und will mit einem kreativen Kinospot potenzielle Bewerber auf sich aufmerksam machen. Auch mit betriebseigenem Kindergarten oder Arbeitsbedingungen, die eine gesunde Balance zwischen Arbeits- und Freizeit ermöglichen, wollen Unternehmen Pluspunkte bei Bewerbern sammeln. Aber manchmal reicht all dies eben nicht: „Wir erleben es leider oft, dass interessierte Kandidaten absagen oder während der Probezeit kündigen, weil sie zu viel Zeit im Stau verbringen“, heißt es bei Lapp. Die Konzernzentrale des Stuttgarter Kabelherstellers befindet sich im Industriegebiet zwischen den Stuttgarter Stadtteilen Vaihingen und Möhringen, eine besonders stauanfällige Region.

Können Arbeitskräfte mit ausländischen Wurzeln die Fachkräftelücke verkleinern?

Ja, sie können die Lücke verkleinern. Die Zahl ausländischer Mint-Akademiker ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Beispiel Inder: Hatten Ende 2012 exakt 3750 eine sozialversicherungspflichtige Arbeit in Deutschland, waren es Anfang 2018 bereits 10 244, hat das IW für unsere Zeitung errechnet. Auch die Zahl der chinesischen Mint-Akademiker hat sich deutlich erhöht: von 3023 auf 6513. Und aus Russland sind inzwischen 5043 Experten im Südwesten tätig, fast doppelt so viele wie Ende 2012. Übrigens: Vergleicht man die Bundesländer miteinander, liegt Baden-Württemberg beim Ausländeranteil an der Spitze – 15,9 Prozent sind es. Bayern kommt auf 11,5 Prozent und das Saarland auf 14 Prozent. Den geringsten Anteil hat Sachsen-Anhalt, da sind es gerade mal 2,9 Prozent. Große Unterschiede gibt es auch innerhalb Baden-Württembergs. Sie reichen von 7,7 Prozent im Main-Tauber-Kreis bis hin zu 21,1 Prozent in der Landeshauptstadt.

Wie viele Experten mit ausländischen Wurzeln sind in den Unternehmen?

Unternehmen wie Bosch oder Läpple machen keine Angaben dazu – auch, weil sie die Zahlen nicht erfassen. EBM-Papst tut es: Zehn Prozent der Beschäftigten im Mint-Bereich haben Migrationshintergrund; in der Produktion liegt der Anteil bei 40 Prozent. Bei Elring-Klinger haben mehr als die Hälfte der Beschäftigten in der Produktion einen Migrationshintergrund. Bei Sick sind es dagegen nur sieben Prozent.

Führt der Fachkräftemangel zu einem geringeren Unternehmenswachstum?

Nein – da sind die Unternehmen weitgehend einig. Bei Lapp ist man dennoch nachdenklich: „Unsere Kunden leiden noch nicht darunter, wir können unsere Aufträge selbst bei gutem Wachstum rechtzeitig umsetzen. Aber auf längere Sicht ist dies nicht nachhaltig durchhaltbar, wenn sich an dem Engpass nichts ändert“, sagt Alexander Lapp, der die Digitalisierung verantwortet. Darüber hinaus könnte Lapp die Lösung für den hiesigen Fachkräftemangel auch im Ausland finden: „Als global agierendes Unternehmen haben wir ein weltweites Netzwerk aufgebaut, in dem wir unter anderem Produktions- und auch Entwicklungskapazitäten vorhalten“, erklärt der Unternehmer weiter.