Nach dem Lockdown berichten Frauen, dass es daheim noch schlimmer gewesen sei als vor der Pandemie. Sie sind betroffen von häuslicher Gewalt. In diesem Jahr haben deutlich mehr von ihnen Hilfe beim Verein Frauen helfen Frauen in Filderstadt gesucht.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Filderstadt - Es ist eine traurige Bilanz, die Tanja Schneider fürs erste Halbjahr zieht. Im Vergleich zum vergangenen Jahr haben sich 20 Frauen mehr bei der Beratungsstelle in Filderstadt gemeldet, weil sie zu Hause von Gewalt bedroht oder ihr ausgesetzt sind. 20 Frauen mehr, sind 20 Familien von den Fildern mehr, 20 Geschichten mehr darüber, was hinter den Wohnungstüren passiert, sagt Tanja Schneider. Es waren in diesem Jahr bisher insgesamt 54 Frauen, die von sich aus gekommen seien. 26 wurden von der Polizei oder vom Ordnungsamt vermittelt. Ist Corona für den Zulauf verantwortlich?

 

Bereits im April, also mitten im Lockdown, hatte Tanja Schneider Befürchtungen geäußert. Dass sie und ihre Kolleginnen von der Beratungsstelle Frauen helfen Frauen Filder, ansässig in Bernhausen, gerade nur wenig mitbekämen. Weil die Frauen, deren Männer handgreiflich werden, daheim eingesperrt sind, und sie selbst kaum Gelegenheit finden, Hilfe zu holen. Zudem konnten die Beraterinnen keine persönlichen Gespräche anbieten.

Allein coronabedingt ist der Anstieg allerdings nicht

Das hat sich vor rund sechs Wochen geändert. Seither sitzen Frauen, die nicht mehr allein weiter wissen, wieder einer Beraterin gegenüber. Auch wenn eine Plexiglasscheibe zwischen ihnen steht. Allein coronabedingt könne der Anstieg beim Beratungsbedarf aber nicht sein, sagt Tanja Schneider. Denn bereits im Februar habe es eine Spitze gegeben.

Dass die Corona-Zeit und der Lockdown im Frühjahr aber als Treiber wirkten, das sei so. Das spiegele sich in den Gesprächen mit den betroffenen Frauen. Corona habe die „besonderen Belastungsfaktoren“, wie Tanja Schneider es nennt, verstärkt. Zum Beispiel weil der Mann nicht mehr zur Arbeit geht, weil die Kinder komplett zu Hause waren, weil auch die Frau kaum mehr rauskam. „Viele haben erzählt, dass es noch viel schlimmer als vielleicht vorher schon war“, sagt Schneider. Die Familien hätten keinerlei Ausgleich mehr gehabt. Kein Sport, keine Treffen mit Freunden, keine Auszeiten, in denen man sich mal aus dem Weg gehen kann, um Kraft zu tanken. „Die Frauen beschreiben das als unheimlich belastend und anstrengend“, berichtet die Beraterin von Frauen helfen Frauen Filder. Es handele sich meist um „keine gesunden Familienstrukturen“, heißt, man geht zum Beispiel nicht mit den Kindern in den Wald zum Auftanken.

Frauen aus allen Schichten und Kontexten

Wobei Tanja Schneider betont, dass die Frauen, die beim Verein um Hilfe bitten würden, „aus allen Schichten, aus allen Kontexten“ seien. Das sei ihr gerade in der Corona-Zeit besonders aufgefallen, dass auch Frauen gekommen wären, bei denen sie auf den ersten Blick niemals gedacht hätte, dass daheim der Teufel los sein könnte.

Für die Beraterinnen in Filderstadt-Bernhausen sei es durch die Lockerungen wieder etwas einfacher geworden, konkret zu helfen. „Wir haben wieder deutlich mehr Handlungsspielraum“, sagt Schneider. So könnten sie Frauen beispielsweise wieder in Frauenhäuser vermitteln. Diese hatten während des Shutdowns eine Aufnahmesperre. Aktuell seien beispielsweise in fünf Frauenhäusern in Baden-Württemberg sechs Plätze frei.

Hier finden Frauen Hilfe

Frauen, die bei sich zu Hause oder auch sonst von psychischer oder physischer Gewalt betroffen sind, können sich an die Beratungsstelle von Frauen helfen Frauen Filder wenden. Die Öffnungszeiten sind montags und mittwochs von 9 bis 15 Uhr, donnerstags von 9 bis 16 Uhr und freitags von 9 bis 13 Uhr. Vor den persönlichen Beratungen sollte allerdings möglichst ein Termin ausgemacht werden. Die Mitarbeiterinnen sind auch telefonisch oder per E-Mail erreichbar. Die E-Mail-Adresse der Beraterinnen lautet beratung@fhf-filder.de, die Telefonnummer ist 0711/7 94 94 14. Die Beratungsstelle befindet sich an der Tübinger Straße 7 in Filderstadt-Bernhausen.

Laut der Statistik des Bundesministeriums für Familien, Senioren, Frauen und Jugend ist jede dritte Frau in Deutschland in ihrem Leben mindestens einmal von physischer oder sexualisierter Gewalt betroffen. Etwa jede vierte Frau ist mindestens einmal Opfer körperlicher oder sexueller Gewalt durch ihren aktuellen oder früheren Partner ausgesetzt. Opfer von Partnerschaftsgewalt sind zu mehr als 81 Prozent Frauen. Laut Bundeskriminalamt wurden 2018 insgesamt 140 755 Menschen Opfer von Gewalt in der Partnerschaft.